Lucie und Leo

«Hallo, schöner Mann?» – die alte Frau mit den weissen Locken strahlt Leo am weiss gedeckten Tisch an.

«Hallo, schöne Frau», lächelt er leise zurück.

Die Frau streicht kokett über die Stirn: «Wer bist du denn?»

Es ist wie ein Messerstich. IMMER. Leo spürt diesen Stich jedes Mal, wenn Lucie ihn fragt, wer er sei.

«Ich bin dein Mann», sagt Leo.

«Mein Mann ist tot», knurrt Lucie gereizt. Und verärgert: «Alle sind tot …»

«Hallo, schöner Mann …» – so hatte Lucie damals auch Leo angelacht. Damals war vor mehr als 50 Jahren.

Er hatte einen Maskenball besucht. Ein junges Düpfi mit schillerndem Taftkleid und einer Larve mit rotem Schmollmund wirbelte an den Tisch. Die Maske strich Hans über sein damals schon sehr lichtes Haar: «Hallo, schöner Mann – magst du tanzen?»

Es war der Anfang ihrer Liebe. Und ihrer gemeinsamen Geschichte.

Als sie nach Mitternacht die Düpfi-Larve vom Gesicht nahm, sah er diese strahlenden nuss­braunen Augen. Sie versprühten Feuer wie zwei Vulkane.

Es waren diese Augen, in die er sich sofort verliebte. Ein Jahr später heiratete er Lucie.

Leo machte Karriere als Prokurist einer Essigfabrik.

Sie führte den Haushalt. Und verwöhnte Leo nach Strich und Faden. Ihre Kochkünste waren legendär.

Sie hätten gerne Kinder gehabt. Zweimal gabs eine Frühgeburt. Dann hatten sie keinen Mut mehr. Und gaben die Sache auf: «Wir genügen einander», sagte Lucie und schmiegte sich an Leo.

Als Leo in Pension ging, widmete er sich seinem Hobby: dem Fotografieren von Pflanzen. Die Mitarbeiter hatten ihm zum Abschied eine teure Fotografenausrüstung gekauft. Somit war er voll beschäftigt.

Lucie wars recht. Sie führte weiterhin den Haushalt. Und abends erzählten sie einander ihren Tag.

Anfangs – so hat Leo später der Fachfrau von der Alzheimervereinigung anvertraut –, anfangs habe er nichts gemerkt.

Er sei nach Hause gekommen. Lucie sei mit dem Kochen noch immer nicht fertig gewesen. Das passierte jetzt öfter. Sie stand einfach verwirrt in der Küche. Und in ihren nussbraunen Augen war so etwas wie Panik.

Erst als die Herdplatte glühte und Lucie sich vor der Fernsehkiste seelenruhig «Sesamstrasse» reinzog, wusste Leo: «Da stimmt etwas nicht!» Seither sind Jahre vergangen – und das Leben von Leo hat sich verändert. E r ist es, der nun den Haushalt führt. Und seine Frau verwöhnt.

Lucie schaut ihm dabei geistesabwesend zu. Nur manchmal fragt sie ihn: «Was tun Sie mit meinem Staubsauger, guter Mann?»

Da spürt er dann wieder diesen Stich.

In einer Selbsthilfegruppe für Alzheimer- Angehörige hat er erzählt: «… ich konnte früher kein Ei kochen. Heute ziehe ich einen perfekten Käse-Makkaroni-Auflauf aus dem Ofen. Lucie ist eine Feinschmeckerin. Sie hat Essen und Kochen immer geliebt. Wenn ich ihr meine Kreationen auftische, strahlen ihre Augen wie früher. Nur schon für diesen wunderbaren Augenblick haben sich die Kochstunden gelohnt …»

Heute serviert er Lucie ein Filet im Teig. Eine Herausforderung – Filet im Teig hatte er noch nie auf dem Menüplan.

Lucie schaut interessiert zu, wie Leo das Filet tranchiert.

Schliesslich balanciert er den Teller vor sie hin: «Hier Lucie!»

Sie strahlt wie die Sonne: «Vielen Dank – wer sind Sie, schöner Mann?»

Leo streichelt ihre silbernen Haare.

Und geht in die Küche. Damit sie nicht sieht, wie er weint.

Montag, 17. Februar 2014