Vom steilen Abhang und dem eisernen Jungen

Illustration: Rebekka Heeb

Es ist immer wieder ein Schock.

ICH STEHE VOR DEM ABHANG.

Und ich muss daran denken, wie ich als Achtjähriger auf Ski da runterbretterte.

Ich hatte weiche Knie.

Ich hatte ein flatterndes Herz.

Und ich hatte den Schiss in den Hosen.

ABER: ICH BLOCHTE DEN STEILEN HANG RUNTER.

UND ALLES FÜR EINEN COUPE WILD­STRUBEL. (Na ja – vielleicht auch, um der ­ewigen Zwängerei meines Vaters einmal nach­zugeben.)

Immer wenn ich jetzt an diesem steilen Hügel vorbeispaziere, bleibe ich stehen. Schaue melancholisch runter zum Tal. Dort braust der Engstligenbach weniger zart besaitet. Und Innocent bellt: «NICHT SCHON WIEDER DIE ALTE LEIER! WIR KENNEN DAS. VERSCHONE UNS MIT DEM ­COUPE-DRAMA. UND BORGE DIR EINEN SEELEN­KLEMPNER!»

Dabei habe ich es ihm höchstens 20-mal erzählt.

Also: Natürlich war damals der Coupe Wildstrubel der absolute Wahnsinn. Ich meine: Die Kembserweg-Omi hielt die Butter noch im Schütt­stein unter fliessendem Wasser frisch. EISKÄSTEN GABS NUR WENIGE IN DER STADT.

Als meine Mutter den ersten einbauen liess, war dort ein Eisfach, in dem gerade mal drei Eiswürfel für ihren Dry Martini Platz hatten.

Vorher wurde mir die amerikanische Errungenschaft in allen Farben hochgejubelt: «Da hast du dann Glace, so viel du willst. Man schiebt die Creme einfach in den Gefrierschrank und…»

GEFRIERSCHRANK?

Das war ein Kistchen in der Grösse eines Suppenwürfels. Davor ein klappriges Blechtürchen. UND DAHINTER SOLLTE MEIN HEISS GELIEBTES EIS EISEN?

Wen wunderts, dass ich auf den Coupe Wildstrubel im Tea Room Schmid so heiss war wie der Teufel auf die fromme Seele.

Mein Vater und ich waren auf dem Weg zur «Tschenten». Ich liebte die Sesselliftfahrt auf den Berg. Denn damals hockte man noch auf Doppel­sesseln. Alles offen. Kein Windschutz. Nur die vorprogrammierte Erkältung.

Ein rührender Lift-Arbeiter legte einem eine Militärdecke über die Knie. DAS LIEBTE ICH BESONDERS. Nicht die Decke, die kratzte – aber der Sämi mit seinem braun gerauchten Stummelzahn, dem Kratzebart, in dem immer noch ein paar Flocken Hobelkäse zitterten, und dem fröhlichen Lachen. «Salüü Housipääter – chumm de umhin guet wider zrugg!»

Er sagte das so, als würde er selber nicht an meine Rückkehr glauben. Denn die Tschenten-­Abfahrt galt als «schwarz» Und somit «schwer».

Wenn ich bei meinem lieben Vater müffelte, jauchzte der nur: «Da wedeln wir mit links.»

Auf dem Weg zum Lift kommt man also beim steilen Hang vorbei.

Gut.

Ihr kennt die Sprungschanzen dieser Welt. VERGESST SIE ALLE. ES SIND HARMLOSE HÜGELCHEN.

Der Abhang hier hat etwa das Gefälle, auf dem unkeusche Priester vom Diesseits direkt abseits in die Hölle jagen!

Das Schlimmste: Während Skischanzen einen Absprung und dann den Flug haben, hat dieser Hang nichts. ABER GAR NICHTS!

Nur dieser verdammte Engstligenbach direkt am Schluss der Steilstelle.

«Da musst du vorher eben abbremsen», nickte mein Vater freundlich, als ich ihn auf das reissende Wasser mit den Eismocken drin aufmerksam machte.

«ABER DER BREMSWEG IST ZU KURZ», begehrte ich auf.

«Du musst den letzten Drittel runterschwingen. So kontrollierst du das Tempo … ja was hat die Frieda Dänzer dir denn beigebracht?»

ACH GOTTCHEN. DIE GUTE FRIEDA. SIE SAH MICH EH IMMER AUF DEM PIROUETTEN-­GEBIET – FRIEDE DER FRIEDA!

«Ich tus nicht!», trotzte ich. Und schulterte meine Ski wieder mühsam hoch.

Mein Vater sah aus wie ein angeschossenes Reh. Er hatte sich so auf diesen Jungen gefreut, von dem er immer geträumt hatte. Und den er bei seinen Parteikollegen und Berg­steiger-freunden als «der kommende Mann aus Stahl und Eisen» propagierte. Ich wusste, dass er mit «mein Junger ist dann mal einen Hang runtergeblocht, um den jeder Lauberhorn-­Champion einen Bogen gerissen hätte», angeben wollte.

NUN WAR NICHTS MIT ALL DER ANGEBEREI.

DER SOHN WAR EIN WARMDUSCHER. DER SOHN BLIEB EIN WARMDUSCHER.

Ich glaube, es war dieser trostlose Blick des Alten, der mir einen Ruck geben liess: «OKAY. ABER NUR EIN EINZIGES MAL IN DIESEM LEBEN. UND DANACH COUPE WILDSTRUBEL. MIT SECHS EISKUGELN SUPPLEMENT!»

Der gute Papa schnäuzte sich und wischte die Tränen aus den Augen: «Du bist der Grösste… dass du das für deinen alten Vater tust. Ich hätte den Mumm nicht , aber du bist halt mein Fels aus Stahl und…»

Gesülze. Gesülze. Gesülze.

Da stand ich also an diesem Abhang. Schob die Spange zur Skibindung nach vorne. Schloss die Augen. Und kam erst wieder zu mir, als ich den Engstligenbach rauschen hörte.

Es wurde ein Riesen­theater gemacht.

Der Bauer, dem der Abhang gehörte und diesen im Sommer jeweils am Seil gesichert mit der Sichel mähte, liess wütend die Polizei kommen.

Mein Vater versuchte mit seinen Stöcken einen Ski, der sich zwischen einem Eisblock und einem Felsstück eingeklemmt hatte, loszuhauen.

Und Pieren Sämis Babettli kam jammernd mit einer Strickdecke: «Das arme Chrüüfeni… isch de dä Ättu net ganz hundert… soones Buableni loost me doch net s Grächi aachi en Bach!»

Das Babettli rubbelte mich trocken, während mein Vater dem Polizisten seufzend vorjammerte. «Mein Junge war nicht mehr zu bremsen. Er sah den herrlichen Schneehang. Und schon jagte er los… alles Rufen half nichts.»

Dann schaute er zum Himmel: «Er ist eben ganz der Vater. Ein Teufelskerl! Ein harter Mann aus Eisen und Stahl!»

«Das Männdleni isch doch no keener zäh Jahri alt», brummte der Dorfpolizist.

«Der Bub wird einmal Skirennfahrer. Oder zumindest Bundesrat», war mein lieber Vater nicht mehr zu bremsen.

NA GUT – IST ER DANN BEIDES NICHT GEWORDEN.

Aber den Coupe Wildstrubel mit sechs Supp­lement-Kugeln hat der Bub eisenhart geschafft…

Dienstag, 14. Februar 2017