Von der Wildsau in der Kirche und blauen Augen

Illustration: Rebekka Heeb

DIE SAU LÄCHELTE.

Es war kein gewöhnliches Schwein, das da in der Kirche ziemlich unverschämt schmatzend die Weihnachtssterne vom Altar frass. ES WAR EINE WILDSAU. Und sie lächelte wirklich. KEINE ÜBERTREIBUNG.

O.k. Es braucht natürlich etwas Fantasie, um in dem zum Spitz auslaufenden Schweinemündchen ein Lächeln zu entdecken. ABER KÖNNEN WIR UNS WENIGSTENS DARAUF EINIGEN, DASS MEINE KIRCHENSAU WUNDERBARE AUGEN HATTE?! Sie waren blau wie das Tuch der Mutter Gottes auf dem Bild über dem Altar. UND SIE HATTEN DIESES LEICHT VERSAUTE ZWINKERN VON HERRN PUTIN.

Kurz: Es war eine Sau, wie man sie nicht jeden Tag im Kirchenchor sieht. DA STAND SIE ALSO JETZT UND HIER – IN DER WALDKIRCHE UNSERER INSEL. DIES AN SILVESTER.

Das mit der Freiluft-Kirche war natürlich wieder so eine italienische Wichser-Idee gewesen. Gib diesen Menschen hier ein Bankkonto mit 100 Euro drauf und sie kaufen sich als Erstes einen Ferrari auf Pump. Als Zweites lassen sie sich eine Open-Air-Kirche bauen.

Eines Tages parkierte einer dieser betuchten Kaufleute aus Rom seinen Zuhälterschlitten vor unserer Hütte (wobei man nie weiss, ob sie etwas kaufen oder verkaufen wollen. Und womit sie überhaupt das Benzin für ihre Luxusgondel blechen). – BREF: EINES TAGES KAM SO EIN RÖMISCHER GROSSWICHT VOR UNSERE TÜRE: «Wir sammeln für eine Waldkirche, Signore…»

INNOCENT BELLTE SOFORT ZURÜCK: «UND WIR SAMMELN PILZE, MEIN LIEBER – DORT IST DIE TÜRE!»

Jedenfalls stellte sich heraus, dass die Vornehmen aus Rom und Florenz, die unser kleines Archipel eh nur in den Augustwochen beglücken (dann aber wie die Heuschrecken das alte Ägypten in den mageren Jahren) – es zeigte sich also, dass die Nobili ihre Brut auch nobel zum Altar bringen wollten. Deshalb musste eine Kirche her.

Schon bald wurden Pinien gerodet. Marmor herbeigeschleppt. Und Weihrauch gekübelt. AM SCHÖNSTEN PLATZ DES EILANDS ENTSTAND EIN GARTEN MIT KLEINEN PALMEN UND GROSSEN OLEANDERBÜSCHEN.

Ölbilder wurden mit Ketten an Holzpfeiler gehängt (eines der Bilder zeigt die eben erwähnte Maria im Stall von Bethlehem mit ihrem Esel und Ehemann).

Bald schon wuselten bereits auch die ersten Pfäffchen, schwarz-weiss wie die herumkreischenden Elstern am Ort durchs Gehölz. Daneben wedelten scharlachrote Monsignori mit diesen seltsam glänzenden Stoff-Güpfi auf dem zumeist schüttern Haar an.

JEDE FAMILIE WOLLTE MIT IHREN KARDINÄLEN UND BISCHÖFEN DIE ANDERE ÜBERTREFFEN – UND SO TAUCHTE SCHON AUCH MAL DAS AUF, WAS DIE ITALIENER «PEZZO GROSSO» NENNEN – Heiligkeiten mit Hüten wie Tambourmajor-Kopflaternen und Kussringen, grösser als alle Klunker, die Liz Taylor je bei ihrem Richard rausgebumst hat.

Es ist für die Geistlichkeiten schwierig, in ihren Seidenschühlein auf den Piniennadeln das Gleichgewicht zu halten. Dabei müssen sie ja auch noch den Blechkübel mit dem Weihrauch schwenken und mit der rechten Hand nach links und rechts Kreuzchen in die Luft winken. Man kann ruhig sagen: Die Queen hats besser!

Doch kaum ist der August vorbei, erinnern nur noch ein paar Marlboro-Stummel (das Schöne an der Waldkirche ist, dass der Bräutigam während des Ja-Worts rauchen darf) an die hohe Zeit der Gotteshäuslichkeit.

BEREITS IM OKTOBER MODERT DAS OPEN-AIR-KIRCHLEIN DAHIN. IM NOVEMBER FRIEREN SICH DIE HEILIGEN AUF DEN BILDERN IN ÖL DIE NACKTEN BEINE STEIF.

Und im Dezember ist es nur noch die alte Lucia, die hier vor dem Helgen der barmherzigen Jungfrau um die Seele ihres Lumpen von Ehemann betet. Arnaldo war Fischer gewesen. Und in den Wellen untergegangen.

SO LAUTET DIE OFFIZIELLE VERSION DER LUCIA-SAGA. Aber alle wissen, dass Arnaldo, dieser verkiffte Geilinger, mit der Kita-Tante aus Orbetello abgehauen und von seiner Alten weg nach Bologna geflohen ist. DENNOCH BETET LUCIA IMMER NOCH FÜR IHN. UND STELLT JEDEN WEIHNACHTSTAG EINEN BLUMENSTOCK MIT CHRISTSTERNEN AUF DIESEN MARMORTISCH, DER DEN ALTAR MIMEN SOLL.

Und ebendiese Christsterne zieht meine Silvestersau in diesem Moment genüsslich rein.

ES WAR INNOCENT, DER EINE «PASSEGGIATA» VORGESCHLAGEN HATTE. Mit Spaziergängen muss mir keiner kommen! Da bin ich kindheitsgeschädigt. Busi-Mützchen, Sonntags-Schlips und Knickerbocker … alles klar?!

Aber heute wollte ich mal nicht so sein. Und ich kann den Alten mit seinen 83 Jahren schliesslich nicht alleine am Stock rumhumpeln lassen. ALSO GING ICH MIT. UND DACHTE MIR, DER LIEBE GOTT WIRDS MIR IM HIMMEL GUTSCHREIBEN. Schon bald wurden wir von Hunden eingeholt – ein Rudel zähnefletschender Köter, gegen die sich Innocent mit dem Stock wehrte. Und ich mit Steinen warf.

SCHLIESSLICH ERTÖNTE EIN HALALI. DIE BIESTER LIESSEN VON UNS AB. UND EINE WEITERE MEUTE – DIESES MAL JÄGER MIT BÜCHSEN – KAM AUF UNS ZUGESCHOSSEN: «Ja hats euch ins Gehirn geschissen?! Die Hunde denken doch, ihr seid Wildschweine. Wir sind hier auf der Jagd. ZIEHT LEINE!»

Das galt nicht etwa den Hunden. Das galt uns. Und Innocent, der eh nur Bahnhof versteht, weil erstens die Batterien seines Hörclips seit dem letzten Schaltjahr abgelaufen und sein italienischer Wortschatz bei «fare amore, bella bimba bruna» stehen geblieben sind, Innocent also brüllt die Jäger an: «IHR KÖNNT MICH ALLE MAL MIT EUREN BILLIGBÜCHSEN – DA HÄTTET IHR MAL MEINE KANONEN IM REGIMENT 5 SEHEN SOLLEN!»

Ich schleiche mich still davon. Denn ich kenne Innocent: Wenn er loslegt, tost er fürchterlicher als drei Tsunamis.

ICH ZIEHE MICH ALSO IN RICHTUNG WALDKIRCHE ZURÜCK. Und dort sehe ich sie jetzt: die Wildsau mit dem leisen Lächeln. Und diesen zwei himmelblauen Augen, die jeden Keiler die Borsten stellen lassen.

LANGSAM GEHE ICH AUF DIE SAU ZU: «Pssst – povero cinghiale … SIE WOLLEN DIR AN DEN SPECK! Rette deine Schwarte und zeig mal, was die Schinken so hergeben!» Die Sau zwinkerte fröhlich. Dann galoppierte sie davon.

Drei Sekunden später jaulten die Hunde. UND ICH MACHTE VOR DER MUTTER GOTTES EINEN KNICKS: «Lass sie davonkommen! SIE HAT DEINE WEIHNACHTSSTERNE AUS LIEBE ZU DIR GEFRESSEN! UND DIESE WELT BRAUCHT JEDES BISSCHEN SCHWEIN ZUM ÜBERLEBEN.»

Zu Hause wartet dann Innocent. Er poltert: «Mein Gott – mit diesen italienischen Schützen ist kein Krieg zu gewinnen. Die verfehlen sogar eine halblahme Sau! Da muss sich keiner wundern, dass auch Berlusconi wiederkommt. Wenn ich da an meine Männer im Regiment 5 denke und…»

«Sie hatte wunderbare blaue Augen», seufze ich zu Innocent. Der: «Ja, ja – blauäugig sind in diesem Lande alle.» Ich sage nichts. Sondern presse mir vier Orangen aus. Und proste mit dem Saft zu den Rosmarin-Hügeln, wo die Sau noch einmal Schwein gehabt hat.

Dienstag, 16. Januar 2018