Big Ben

«1200 Franken!» – Nico schrie es fast.

Herr Knöll, der Uhrmacher lächelte sanft:

«Es waren viele Arbeitsstunden. Und ich musste eines der Messinggewichte auswechseln…»

Nico schaute die Uhr seiner Grossmutter an. Es war eine «Big Ben» – und es war ein Stück Kindheit.

Zu Hause war immer Zoff gewesen. Schliesslich war sein Vater ausgezogen. Und seine Mutter schüttete sich mit Rotwein voll.

Nico floh zur Grossmutter – sie war Beständigkeit. Liebe. Und eben: Bei ihr läutete auch diese baumhohe Big-Ben-Uhr mit diesem wunderbaren Glockenwerk.

Grossmutters «Big Ben» ist dem kleinen Nico stets riesig vorgekommen: Er stierte auf das Zifferblatt. Und wartete auf den Vogel.

«Immer wenn die Uhr auf sechs steht, zeigt sich oben der Buntspecht», flüsterte die Oma, «und während die Glocken läuten, darf man dem Vogel die Sorgen erzählen. Und Wünsche flüstern…»

Nico hatte viele Sorgen. Viele Wünsche.

Die Glocken läuteten viel zu kurz … und der Vogel war zu schwach, um Nicos Leben zu stemmen.

Er zog dann in eine Studentenbude. Altbau. Gottlob.

Wie sonst bekäme man eine Big-Ben-Uhr in die gute Stube?

Seine Grossmutter war vor einem halben Jahr gestorben. Obwohl sie eine gute Rente bezog, gab’s kaum Geld auf dem Bankbüchlein. Sie war eh nicht der Typ, der sich mit einer Bank anfreunden konnte. Manchmal steckte sie Nico eine grosse Note zu: «Erfülle dir einen Wunsch… der Buntspecht lässt grüssen…»

Er hatte ihre 4-Zimmer-Wohnung von einem Trödler räumen lassen – und die Big-Ben-Uhr behalten. Aber natürlich war die Zeit abgelaufen. Das Kettenwerk mit den Gewichten lotterte. Der Stundenzeiger lahmte. Deshalb ging er zu Knöll. Und legte 1200 Franken hin – es war so ungefähr alles, was er für die Ferien am Meer auf die Seite legen konnte.

Egal.

Ferien daheim! Auch schön…

Er stand jetzt auf einem Stuhl. Und zog die drei Messinggewichte an der Kette nach oben.

«Es war ziemlich mühsam, das alte Spielwerk mit diesem Buntspecht zu restaurieren!», hatte Knöll den Preis gerechtfertigt.

Nico schaute auf seine Swatch: Es war kurz vor sechs Uhr. Er gab dem Pendel einen leichten Stoss. Man hörte das gemütliche Tick-Tack.

Er hätte die Uhr gerne Lea gezeigt. Sie hatten sich gezofft. Und seine Freundin war gegangen.

Seit drei Monaten: NULL LEBENSZEICHEN. Und nie ging sie ans Telefon.

DING-DONG-DING-DANG!

Nico wurde aus seinen trüben Gedanken herausgerissen – sechs Uhr. Der Big Ben legte los mit seinem Glockenspiel.

Nico stierte gebannt auf die Uhr – und tatsächlich: Der Buntspecht tauchte über dem Zifferblatt auf.

«…und bitte mach, dass sie anruft!», seufzte Nico.

Natürlich rief sie nicht an. Dafür am andern Tag Uhrmacher Knöll: «Ich habe vergessen, Ihnen das Päckchen auszuhändigen… es steckte im hintern Uhrkasten. Mein Lehrling bringt’s vorbei.

«FÜR NICO» – stand darauf. Und: «EIN GRUSS VOM BUNTSPECHT!»

Nico riss es auf. Das Geld hätte auch für eine Mondreise gereicht.

Er stierte noch immer fassungslos auf das Paket mit den grossen Noten – da glockte Big Ben. Und schlug sechs Mal.

Nico war völlig von der Rolle – und hörte das Telefon nicht.

Könnte sehr gut sein, dass es Lea war.

Freitag, 18. Mai 2018