Von Albträumen und einer Klassenzusammenkunft

Illustration: Rebekka Heeb

Der Absender war «Heinrich Meier». Ich drehte den Brief in den Händen herum. «Meier? Meier? – Heinrich?»

Und plötzlich sah ich ihn vor meinen Augen: klein, mit Schnauzer und mit diesem ewigen Optimismus, mit dem er auch die Lateinarbeiten anging!

«D Meise!» – durchzuckte es mich. Und: «Was will denn der? Das ist doch jetzt auch schon ein halbes Jahrhundert her. Und …

Die 50 Jahre gaben den Anlass zum Brief.

«Vor genau 50 Jahren haben wir das Maturzeugnis in die Hände gedrückt bekommen…»

HABEN SIE.

ICH NICHT.

Ich legte den Brief auf die Seite. Und wollte nicht an jenen Tag erinnert werden. Aber die Bilder von damals jagten bereits wie Atome in meinem Kopf herum. Sie holen mich immer wieder ein. Manchmal wache ich nachts auf. Bin schweissgebadet. Und weiss: Das war wieder der Traum. Ich träume ihn seit einem halben Jahrhundert. Sporadisch. Doch er kommt so sicher wie das Amen nach der Predigt:

Mit 30 Jahren bin ich in Ostia von der Strömung davongetragen worden. Und konnte nicht mehr an Land zurück schwimmen. Das Ufer entfernte sich immer mehr. Und ich versuchte zu schreien. Doch irgendetwas schnürte mir die Kehle zu. Ich wusste: Das ist es jetzt gewesen. Adieu, du böse Welt!

Ein kleines Mädchen entdeckte mich, wie ich mit den Armen fuchtelte. Dann ging alles schnell: Ich sah nur noch, wie ein rotes Rettungsboot über das Wasser schoss. Als es zehn Meter vor mir war, ging ich unter. Im Spital von Ostia pumpten sie mich wieder auf die Erde zurück – die erste Frage war: «Sind Sie privat versichert?».

Jahrelang hatte ich dann diesen Traum, wie meine Füsse den Meeresgrund ertasten wollen. Das Wasser aber zu tief ist. Und ich ertrinke. Auch da: Erwachen mit Schweissausbrüchen. Und nie mehr bin ich weiter geschwommen, als bis dass ich mit den Füssen noch den Meeres- oder Bassinboden berühren konnte. Einfach Schiss gehabt.

Erst mein fitter Vetter Tom hat mich dann Schritt für Schritt wieder ins Tiefe therapiert. Zuerst nur einen Meter ohne Bodenfühlung. Dann zehn Meter. Jetzt schwimme ich hinaus – aber nie lange. Nie allzu weit. Immerhin: Der Albtraum vom Absaufen ist erloschen.

ANDERS MIT DER MATURFEIER.

DAS IST NICHT AUSGESTANDEN. NOCH NICHT GEGESSEN.

Ich habe den Moment immer wieder vor Augen: Wir sitzen in der Aula. Freuen uns auf die grosse Fete nach der Zeugnisübergabe (wir haben einen Waggiswagen organisiert, mit dem wir durch die Stadt fahren wollen).

Ich weiss, dass meine Leistungen in den letzten zwei Jahren mies waren. Um es klar zu sagen: Ich hatte die totale Sexualität entdeckt. Und tobte mich aus. ES WAR DIE ACHTERBAHNFAHRT EINES JUNGEN SCHWULENLEBENS. Aber ich kann mir vorstellen, dass auch ein Heti-Junge dasselbe mitmacht, wenn er sich erstmals so richtig verliebt.

NA JA – UM EHRLICH ZU SEIN: ICH WAR NUR NOCH SELTEN GAST IN DER SCHULBANK. SONDERN MEHR IN DEN BETTEN. Aber das ist hier nicht das Thema.

Ich war mir sicher, dass sie mir die Matura geben würden. Denn immerhin war ich so etwas wie die «Mutter der Klasse». Und «reif» war ich ja. Maturus! SOGAR ETWAS ÜBERREIF!

Überdies hatte ich unsere langweilige Shaw-Aufführung gerettet, indem ich aus der weiblichen Hauptrolle Charleys Tante gemacht hatte.

AUCH KEIN THEMA!

Wir warteten also auf den unbequemen Aula-Stühlen, dass die Sing-Elite endlich mit Buxtehudes «Cantate Domino» loslegen würde. Nichts passierte. Da ging der Rektor zu unserem Klassenlehrer Fortunatus. Ich sehe auch heute noch die Szene in Zeitlupe vor mir: «Sagen Sie es ihm!» Doch der Klassenlehrer – und dafür habe ich ihn geliebt – schüttelte den Kopf: «Ich war nicht dafür – das soll ihm einer der Verantwortlichen sagen.» Der Rektor winkte mich hinaus. Ich spüre noch immer, wie eine eiserne Hand mir die Kehle zudrückt. Und Getuschel rundum. Jemand sagt: «Das darf jetzt aber nicht wahr sein!»

Fünf Minuten später sang der Chor «Cantate Domino» – singet dem Herrn!

Ich sass im Rektorzimmer vor dem Pult des Allmächtigen: «Wir haben Ihren Vater informiert. Er ist auf dem Weg.»

Ich weiss noch, dass ich als Erstes gedacht habe: Ab auf die grosse Terrasse. Und dann springen. Das tönt hier melodramatisch. Aber es war eine klare, nüchterne Überlegung.

Später hat ein «durchgefallener Maturand» dasselbe auch gedacht. Und ist gesprungen. Er war mutiger? Verzweifelter?

Ich erstarrte einfach auf diesem Stuhl vor dem Rektoratstisch. Ganz weit weg mühte sich die Elite mit dem Kanon «… et benediiiciiiiteee…» ab.

DA KAM AUCH SCHON MEIN VATER. UND KLOPFTE MIR AUF DIE SCHULTER: «VERGISS DIESE ARMLEUCHTER, ES GIBT IMMER EINEN WEG!»

Das sind Momente, die vergisst man dem Vater nie.

«Was ist das?» – fragt Innocent, nun etwas beunruhigt über meinen abwesenden Blick auf den Brief in meinen Händen.

«Klassenzusammenkunft … vor 50 Jahren war die Maturfeier!»

Er schweigt. Dann zupft er mir das Schreiben aus den Fingern: «Sogar mit privater Museumsführung. Ist doch toll.» Schliesslich klopft er mir auf die Schulter: «Ich weiss, was du denkst. Ich weiss, was du fühlst. Aber ich finde, du solltest gehen. Vielleicht hast du es dann endlich verarbeitet.»

Ich ging hin. Es war schön. Einer hat zu mir gesagt: «Ich denke oft daran und dass wir etwas hätten unternehmen sollen.» Was? Es war m e i n Leben. Aber die Worte haben gutgetan.

Dienstag, 8. August 2017