Heinz Spoerli

Zuerst erkenne ich ihn nicht.
Ok. Paulchen hatte es mir bereits geflüstert: «Er hat abgenommen!»
ABER GLEICH SO?!
Heinz Spoerli sitzt an einer Tasse Kaffee (mit Assugrin). Grinst über alle (na ja – jetzt nur noch zwei) Backen. Und geniesst die Überraschung: «Also – was sagst du?»
Ich sage gar nichts. Der Neid nagt an mir – wie das erwärmte Klima am Arktis-Eis.
«Über 25 Kilos!», setzt er noch einen drauf.
Er sieht blendend aus. Mitnichten: zurückgezogener Rentner. Und auch nicht «Frustsack». Sondern: dynamisch, jung. Vor allem: ausgeglichener denn je.
«Also das mit dem Abnehmen war ja zu Beginn nicht freiwillig. Ich habe mich an einem Tischchen, das ich verschieben wollte, überlüpft. Stich im Rücken. Zuerst denkst du an Hexenschuss. Du pumpst Voltaren. Die Ärzte pumpen Cortison. Die Schmerzen sind immer noch da – also noch mehr Pillen. UND DANN IST ES PASSIERT?!»
Was passiert?
«Nun. Ich hatte ziemliche Probleme … Spital … Untersuchungen. Na ja, das ganze Programm.»
Also Spitalaufenthalt?
«Horror. Kennst du Spitalzimmer? Und kannst du dir mich im weissen Laken vorstellen? Das war nun nicht gerade mein Ding – morgens um fünf Uhr bin ich einfach abgehauen. Um zehn Uhr war ich an der Probe. Ich konnte die doch nicht im Stich lassen – so kurz vor der Premiere.»
Damals hatte er die ersten Kilos abgenommen. «Mein Arzt warnte mich, ich müsse meine Essgewohnheiten, ja meinen Lebensrhythmus umstellen. Aber da war ja noch die ganze Hektik der Ballettwelt. Und ich bin eben immer ein Stressfresser gewesen. Wenn jeder etwas von dir will, hast du nicht noch Zeit, lange übers Essen nachzudenken. Du schaufelst Gipfeli, Silserli, all das, was da ist, unkontrolliert in dich rein. Essen beruhigt ja auch. Aber jetzt esse ich b e w u s s t e r: Seit meiner Pensionierung – seitdem ich einfach nur noch das tun kann, was mir wirklich Freude macht – fällt auch der Stress weg. Und mit ihm fallen die Kilos …»
Wir sitzen im Zürcher «Savoy» an der Bahnhofstrasse. Die Bar des alten Hotels Baur en Ville ist wie eine kleine Oase in der nervigen Business-Hektik. Still. Gediegen. Dezent.
«Es ist meine Samstagsstube …», lächelt Spoerli, «hier treffe ich an den Wochenenden meine Freunde. Manchmal auch Leute vom Theater. Ich bin hier daheim.»
Wie auf ein Zeichen kommt der Hotelier. Er begrüsst Spoerli, wie ein Onkel, der sich über den Besuch seines Neffen freut. Und schickt den Oberkellner: «Wollt ihr etwas essen?»
JA KLAR. ICH HABE KOHLDAMPF.
Heinz bestellt einen Roastbeef- Teller. Da kann ich wohl auch nicht anders. Ich beschliesse, von diesem Moment an b e w u s s t e r zu essen. Die neun rosigen Scheibchen sind dann allerdings hopp, hopp reingeflutscht. Derweil säbelt Heinz noch immer am ersten Häppchen herum. Und schiebt das Brot auf die Seite.
Bei mir hat es bereits kein Brot mehr …
Du geniesst es jetzt richtig?
Spoerli lächelt: «Nun – ich habe immer noch meine Gast-Choreografien. Komme jetzt eben von Karlsruhe. Aber JA. ICH GENIESSE DIE MUSSE. Geniesse es, auch einmal nichts zu tun – und kein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Ich geniesse die Zeit. Genug Zeit auf dem Konto: Das ist das Kostbarste, was einer besitzen kann. Einfach wunderbar – Zeit, an eine Ausstellung zu fliegen … Zeit, sich ein Konzert anzuhören oder mittags im Kino einen Film anzuschauen … Zeit auch für die a n d e r n zu haben. Das ist wichtig. Letzteres vielleicht das Wichtigste – seinen Freunden Zeit schenken zu können.»
Die Kompanie fehlt dir?
Das ist eigentlich keine Frage. Sondern eine Feststellung.
«Ja. Und nein. Ich bin ja ein Einzelgänger. War das immer. Die Kompanie war stets meine Familie. Aber die hat immer wieder gewechselt. Ich bin Abschiede gewohnt – habe immer Abschiede genommen. Natürlich waren die Tänzerinnen und Tänzer immer da. Und um mich. Aber abends bin ich froh gewesen, wenn ich mich zurückziehen konnte – in meine Wohnung. Alleine sein. Regenerieren.»
Die legendäre Wohnung über dem Zürichsee im Seefeld?
«Ja. Ich brauche Platz. Viel Platz. Und ich brauche Licht. Viel Licht. Deshalb die Aussicht über den See. Im Theater schaust du immer nur ins Dunkle, in den Guckkasten – das ist der Grund, weshalb ich mir damals diese Wohnung genommen habe. Hier kann und konnte ich durchatmen.»
Er hat das klassische Ballett in den letzten Jahrzehnten geprägt. Hat es entstaubt. Neue Zeichen und Schritte gesetzt – wie ist das mit den neusten Strömungen …
«Da bin ich ganz offen. Aber man muss etwas darin spüren … wichtig ist die Musikalität. Das ist die Voraussetzung für einen Choreografen. Leider fehlt das aber oft. Deshalb werden Inszenierungen der neuen Art oft langweilig. Nach zwei, drei Mal hat man’s gesehen.»
Die klassische Basis ist also wichtig?
«Klar. Sie ist das Werkzeug. Damit kann man arbeiten. Wenn die Basis wegfällt, fällt auch der Tanz durch.»
Aber dennoch ändert sich alles – auch das Bild des Tänzers.
«Das stimmt. Früher war der Tänzer einfach da, um die Primaballerina bei ihren Pirouetten zu halten. Und sie hochzuheben. Der Tänzer war ihr Handlanger. Doch dann kam Nurejew. Und mit ihm änderte sich alles …»
Inwiefern?
«Nun – es ist ähnlich wie bei den Köchen. Die waren auch immer irgendwo in der Versenkung, bis Bocuse die Szene betrat. Nurejew zeigte, dass es auch einen m ä n n l i c h e n Tanzpart im Ballett gibt. Heute würde man sagen: Er machte daraus die grosse Show. Und wurde der Superstar. Jeder Taxichauffeur kannte Nurejew …»
Spoerli grinst. « … und Nurejew jeden Taxichauffeur.»
Das Bild des Tänzers hat sich also verändert.
«Ja. Und es verändert sich jeden Tag neu. Früher munkelte man, nur schwule Männer gehen ins Ballett. Das war bedingt vielleicht so – Männer, denen es daheim zu eng wurde, die in dieser Tanzwelt ihr Leben ausleben konnten.
Heute sind Tänzer sportlich, männlich. Aber es sind auch jetzt noch oft Burschen, die aus einer Enge flüchten – junge Männer, die nicht irgendwo in einem Dorf in Spanien, in Südamerika oder im Osten verkümmern wollen. Sie fliehen aus der Enge in ihre Traumwelt. Und werden Traumtänzer …»

Also eigentlich alles wie früher …
« … ja. Und doch anders. Denn das ganze Ballett ist im Umbruch. Früher lebten wir für den Tanz. Und tanzten fürs Leben. Es gab nichts anderes. Keine Ablenkungen, vielleicht dann und wann mal eine Premierenfeier. Oder ein Geburtstagsfest. Das endete meistens um ein Uhr morgens. Denn am andern Tag hattest du im Ballettsaal pünktlich um zehn Uhr wieder an der Barre zu stehen.»
Das ist heute anders?
«Die Z e i t ist anders. Feiern und Partys machen bei den Jungen den Alltag. Die Feten beginnen jetzt aber erst um elf Uhr nachts. Manchmal noch später. Sie dauern bis sechs Uhr morgens. Die Tänzer gehen dann nicht mehr heim, sondern versuchen, irgendwo im Theater noch drei Stunden Schlaf zu bekommen. Dann kippen sie literweise Aufputschgetränke in sich rein. Und kommen so zur Probe. Was ich damit sagen will: Das heilige Feuer brennt nicht mehr nur für e i n e Sache, und der Anspruch an sich selber ist entsprechend nicht mehr so hoch.»
Es ist also nicht mehr die grosse Ballettzeit wie damals in Basel, als Dügg dich holte und …
Spoerli hebt die Hand – ganz grosse Geste: «Stopp. Das war damals tatsächlich eine tolle Zeit. Aber das hatte nicht einfach nur mit u n s und Basel zu tun – es war weltweit eine spannende Epoche im Ballett: Alle diese Veränderungen … dieses Neue … die Tänzer, die aus dem Osten kamen … das alles machte jene Ballett- Epoche spannend.»
Und jetzt ist es nicht mehr spannend?
«Im Gegenteil. Wir stecken eben in diesen Monaten in einer Zeit, wo sich vieles in der Ballettwelt verändern wird. Wir stehen an einer Kreuzung: Wohin fährt der Zug? Paris, München und Berlin – überall kommen neue Namen. Diese wiederum werden neue Zeichen setzen. Heute kann einer Chef eines grossen Balletts werden, selbst wenn er keine Ahnung vom Ganzen hat. Er muss ‹verkaufen› können – das ist das magische Wort für die Häuser. Das kann aber auch gefährlich sein. Denn wenn einer gerne Bananen isst, heisst das noch lange nicht, dass er Direktor bei Chiquita werden kann – er muss doch wissen, wo die Bananen wachsen, wie man sie pflegt, wo sie herkommen …»
Sergej Filin hat dich ans Bolschoi gerufen. Er wollte dort vieles verändern, modernisieren – da haben ihn die eigenen Leute mit Säure übergossen.
«Sergej war zu schnell. Ich war dort. Und spürte: Im Bolschoi ist die Zeit für Neues noch nicht reif. Die alten Kräfte sind sehr stark. Deshalb habe ich mir auch Zeit ausgebeten – und natürlich ist da auch die Ehrfurcht vor dieser Riesenbühne.»
Man hat dir nachgesagt, du seist eine Diva gewesen und…
«…nur weil ich einmal eine Vorstellung platzen liess, wo man mich schikanieren wollte. Nein. Ich war nie eine Diva. Aber ich war streng. Ich habe immer hart gearbeitet – und von meiner Kompanie dasselbe verlangt. Knochenarbeit eben. Ich habe mein Leben lang die ganze Kraft in die Kompanie investiert – die Kompanie m u s s einfach gut sein. Eine gute Kompanie kann eine schlechte Choreografie retten – eine schlechte Kompanie aber kann die beste Choreografie zur Sau machen.»
Ein bisschen träumt er noch vom Ballet Suisse – dieser einheitlichen Schweizer Kompanie, welche für das Ballett in unserm Land so wichtig wäre.
« … aber das wird wohl ein Traum bleiben … bei uns köchelt jeder Kanton sein eigenes Süppchen. Daran scheitern die grossen Ideen!»
Wir spazieren schliesslich ein ­bisschen die Bahnhofstrasse hinauf. Von Weitem sieht man das Opernhaus. Heimweh nach dem alten Kasten?
Er schüttelt den Kopf – und lächelt:
«Es war eine gute Zeit. Aber ich habe das Haus nach nach meinem Weggang nie mehr betreten. Das wäre wohl auch nicht gut gewesen …»
Er ist gewohnt, Abschiede zu ­nehmen …
Was Heinz Spoerli mag
Städte Zürich und Basel
Musik Bach, Tschaikowski, Brahms – aber auch Pop und Rock. «Wichtig ist, dass man als Choreograf die Musik und ihren Rhythmus spürt. Und so interpretiert.»
Kunst Die Moderne. Und grosse Räume.
Verabscheut
Langweilige Inszenierungen, die sich immer wiederholen. Intrigen und Fast Food.

Samstag, 20. April 2013