Dinner am Dreikönigstag

Anna-Louise Sarasin – oder „d Ammelugge“, wie die ledige Tante in der Verwandtschaft gehandelt wurde – schätzte den Dreikönigstag.

Die schrecklichen Festtage waren mit dem 6. Januar endgültig vorbei. Das war schon mal ein Grund tief durchzuatmen. Weihnachtszeit bedeutete nämlich für die 86 Jährige ein nerviger Rummel an Einladungen.

JEDER IN DER SIPPE WOLLTE D’AMMELUGGE AM KRIPPLEIN HABEN.

Fräulein Sarasin lachte heiser auf. Sie erklärte ihrer chilenischen Haushälterin den Sachverhalt: „Das hat nichts mit Nächstenliebe an einer einsamen Verwandten zu tun, Maria - die denken vielmehr an das gute Geld vom „Danteli“. Und wünschten sich die Alte schon längst in der Grube!“

Sie schauderte leicht, wenn sie an das für die protestantische Stadt etwas zu protzige Familiengrab auf dem Wolfsgottesacker dachte – ein steinerner Engel hob schützend die Hände über der Gruft. Na danke. NICHT MIT IHR! UND SIE WOLLTE SCHON GAR NICHT IN DIESE GRUBE WO SCHON IHRE SCHWESTER MILLI LAG! Milli hatte ihr Joggi ausgespannt.

Jakob - oder eben Joggi – war ein Vetter zweiten Grades. Er war überdies der einzige in der ganzen Sippe, dessen Kinn energisch vorstand und nicht wie eine gekippte Schublade runterhing. Alle andern Vettern hatten diese fliehenden Kinnpartien, die immer ein klares Zeichen von Inzucht und Degeneration waren.

Auch Joggi lag bereits in der Gruft. Er hatte sich zu stark übernommen. Die Dame, auf der er seinen letzten glücklichen Moment aushauchte, war für eine Stunde gemietet gewesen. Sie stammte aus Mombasa. Sie machte ein Riesengeschrei als Jakob nicht mehr runterstieg. Es kostete die Familie einiges Geld, um den Skandal zu vertuschen und die gute Frau nach Afrika zurückzuschicken.

(sie soll mit dem Schweige-Obolus eine gutgehende Pizzeria in Malindi eröffnet haben).
Nein. Ammelugge war nicht für die engelsüberwachte Gruft. Sie hatte sich vielmehr für teures Geld ein Loch in einer Eiche besorgt. Hier wurde die Asche des Menschen im Baum eins mit der Natur. UND IN DER STATTLICHEN EICHE WARTETE KEIN KINNSCHWACHER CLAN AUF SIE.

Fräulein Sarasin schätzte den Dreikönigstag auch, weil sie sich am 6. Januar immer auf recht preiswerte Art mit einer Einladung bei ihren Vewandten für Weihnachten revanchieren konnte. Seit vielen Jahren schon lud sie die 36 Basen und Vettern zum „Dinner Royale“. Es gab Königskuchen mit goldenen Pappkronen drauf. Pro Kopf rechnete sie eine Kugel. Dazu heisse Schokolade, welche Maria auf chilenische Art mit gestossenen, roten Pfefferkörnern würzte.

Sie wusste natürlich, dass in der Familie über dieses frugale „Dinner Royale“ gelästert wurde. Es war ihr egal. Niemand hatte den Mut ihre Einladung zu refüsieren.

SIE KAMEN ALLE. Jeder mit Schleimereien sowie der Hoffnung im Testament erwähnt zu werden.
Auch jetzt hatten sie den Königsabend alle über sich ergehen lassen. Maria räumte die alten Meissenteller ab.

Ammelugge sass am Spieltischchen. Sie legte sich eine Patience.

Schliesslich rief sie Maria zu sich. Und steckte ihr ein Couvert zu: „Aber schicke nicht wieder alles an deine Kinder…gönne dir auch einmal etwas!“

Maria küsste die alte Frau: „Sie sind immer so gut zu mir…“

Ammelugge Sarasin knurrte unwillig. Gefühle machten sie unsicher: „Wir sind zusammen alt geworden, Maria – das verbindet! Mehr als die Familie“.

Dann holte sie aus Spieltischschublade ein Foto mit einer Eiche: „Könntest du dir vorstellen mit mir in einem Baum weiterzuleben, Maria?“

Montag, 6. Januar 2014