Nackte Tatsachen

Elsie schaute aus dem Fenster. Es goss aus Kübeln.

ES SCHÜTTETE BEREITS DIE VIERTE WOCHE!

Etwas schuldbewusst schaute sie auf Walter.

Der hockte vor einer dampfenden Tasse mit Milchkaffee. Es war das Einzige, das dampfte.

«Es soll mittags aufhören …», gab Elsie den Aufheller zum Tag durch.

«DAS SAGST DU JETZT SCHON SEIT 22 TAGEN – ELISABETH!»

Wenn Walter sie ELISABETH rief, bedeutete dies Gewitter.

Na gut. Auch Elsie hatte auf die Meteo-Karte geschielt. Und gesehen, dass auf Sylt ein Sonnenhoch war.

AUSGERECHNET!

Wochenlang war er ihr in den Ohren gelegen: «Weshalb wollen wir nicht wieder mal auf Sylt? Dir hat doch dieses Nudistencamp wunderbar gefallen. Und nichts fühlt sich besser an als ein warmer Wind auf nackter Haut …»

Es gab viele Gründe.

Als sie auf Sylt in den Dünen lagen, waren sie 30 Jahre jünger gewesen. 60 Pfund leichter. Und die Haut straff wie eine eingerollte Senftube.

Eigentlich hatte Elsie mit Nackt-Ferien null am Hut gehabt. Sie malte sich aus, wie Menschen mit schwabbelnden Arschbacken für ein Eis anstanden. Alleine schon die Vorstellung von sand­panierten Hinterteilen liess sie leer schlucken. Und sie nervte Walter mit Fragen wie: «… und wo steckt man in so einem Nudistencamp die Kreditkarte hin, bitte?!»

Walter schalt sie ein prüdes Huhn.

Sie liess sich breitschlagen. Aber sie tat sich schwer – es war eben doch sehr gewöhnungs­bedürftig, pudelnackt am Vegetarier-Buffet anzustehen. Vor ihr boxte sich eine Berlinerin mit Speckgürteln wie Brummireifen zu den Salatschüsseln. Das Vollweib kleckerte mit der Sauce. Prompt regnete es Mayonnaise auf ihre Riesenbrüste. Diese baumelten wie übervolle Staubsaugersäcke über dem Bauch. Und «igitt!» lachte die Frohnatur. Sie nahm ihr Herz in beide Hände. Und leckte die Mayo weg.

Elsie wurde kalkweiss: «Ich will heim, Walter …»

«Verdamm mich», fluchte der. Ein frisch frittiertes Tofustückchen war ihm vom Teller geflutscht – und genau dorthin, wo es nicht hätte hinfallen dürfen.

Sie fuhren dann in die Schweizer Berge. Und mieteten ein Chalet in diesem Ort, wo das Vogellisi herumpfeift.

30 Sommer kommen sie nun treu vom Unterland hierher.

Alles ist proper. Und überall gut verpackt. Ein einziges Mal nur wollte eine Gruppe von älteren Nacktwanderern die Lohnerhütte bezwingen. Sie kam nicht weit. Nach den ersten 15 Metern wickelte man die etwas klapprigen Gestalten in Militärwolldecken. Wer je erlebt hat, wie diese auf nackter Haut kratzen, weiss, dass dies die Höchststrafe war.

«O.k.», sagte Elsie an jenem 23. Regenmorgen. Und trug die Kaffeetassen in die Küche.

«O.k. Du hast gewonnen. Morgen fahren wir nach Sylt!»

«Oh Elsilein» – er nahm sie in die Arme. «In Sylt scheint die Sonne …»

Als sie ankamen, goss es aus Kübeln.

«Es gibt nichts Schöneres als Regentropfen auf der nackten Haut …», gab Walter den Aufheller zum Tag durch.

«REGEN?» – jaulte Elsie, «NOCH DREI GRAD WENIGER UND ES SCHNEIT!»

Dann rief sie die Kinder an, welche nach der spontanen Abreise das Adelbodner Chalet belegt hatten: «Alles o.k. bei euch?»

«Ach Mammi», jubelte die Tochter, «es ist einfach herrlich. Heiss und sonnig. Wir liegen nackt im Garten …»

«Oh Gott», flüsterte Elsie in den Hörer, «lass die Finger von der Mayo!»

«WAS IST?»

Doch da hatte Elsie auch schon aufgelegt.

Draussen fiel der erste Schnee.

Montag, 21. Juli 2014