Muttertag

Er hatte nicht angerufen.

Den ganzen Sonntagmorgen hatte Herta auf sein Telefon gewartet.

Sie hatte den kleinen Apparat angestiert. Ihn ­hypnotisiert: «Lass Ralf daran denken … lass Ralf daran denken!»

Aber sie wusste: Es war umsonst.

Ralf dachte nur an sie, wenn er Geld brauchte.

Das Schlimmste war das Heim.

«Du hast es gut», hatte ihre Freundin Lore geseufzt: «Keine Geldsorgen. Alles wird erledigt. Null Probleme …»

Was wusste Lore schon vom gesellschaftlichen Druck in so einem Alten-Bahnhof.

Am Mittagstisch zückten alle Fotos von ihren Enkelkindern. Oder sie zeigten auf diesen ­neuartigen Handtelefonen Aufnahmen vom ­letzten Familientreffen herum.

Sie redeten unentwegt über die Grosskinder. KEIN ANDERES THEMA!

Herta redete nichts. Sie sass einfach da. Und lächelte gezwungen.

Manchmal kam Herta gar nicht zum Essen. Sie hatte nichts zu zeigen, nichts zu sagen – Ralf hatte keine Kinder. War noch nicht mal verheiratet.

Er sah sich als Künstler. Baute aus Abfall seltsame Skulpturen zusammen, «Kunst», sagte er. Aber: Kunst, die niemand wollte.

Und er schnorrte konstant Geld von ihr.

DAS WAR NICHTS, MIT DEM EINE MUTTER BEIM SCHWARZEN KAFFEE FURORE MACHEN KONNTE!

Früher hatte Ralf sie am Muttertag noch besucht. Einmal brachte er ihr ein Herz mit – aus einem Abfallrohr geformt: «Für dich!»

Sie war gerührt gewesen. Und als die ­Zimmerfrau beim Abstauben unsicher fragte, ob sie «das da» entsorgen solle, fauchte Herta: «DAS IST KUNST – SIE DUMME PERSON!»

Dennoch wagte sie nicht, das Abfallrohr-Herz in der Mittagsrunde zu zeigen.

Der Friseur in der Altenresidenz war seit Tagen ausgebucht gewesen. Alle hatten sich ­auf­gebrezelt. Und warteten in der grossen Halle auf die Kinder.

«Ralf holt mich ab», hatte Herta die andern ­angelogen.

Dann bestellte sie sich ein Taxi. Liess sich in das Restaurant fahren, wo sie früher stets mit ihrem Mann gegessen hatte. Und war dort von ­schreienden Kindern mit stolzen Grossmüttern umgeben. «Seine Frau hat wunderbar gekocht», erzählte sie abends am Tisch.

Herta hatte Ralfs Frau schon vor drei Jahren erfunden. Im momentanen Stadium war sie gerade im siebten Monat: «Ralf ist ja so ­glücklich …» Die andern Frauen am Tisch schauten sie schräg an: «Sollte die junge Mutter nicht schon vor drei Monaten geboren haben?»

Herta schwieg. Das Gedächtnis liess nach. Und natürlich brachte sie die Monate etwas ­durcheinander.

«Es ist überfällig…», hüstelte sie. «Vermutlich wirds ein Kaiserschnitt!»

Und Herta verabschiedete sich: «Migräne … der Föhn!»

Als die Zimmerfrau sie am andern morgen tot im Bett fand, hatte man alle Mühe, den Sohn ­ausfindig zu machen.

Schliesslich erreichte ihn die Heimleiterin an einer Kunstausstellung in Köln. Und er nahm den nächsten Zug.

Herta war bereits abtransportiert, als er ihr ­Zimmer betrat. Ein Foto, das ihn in den Armen ­seiner Mutter zeigte, stand auf dem kleinen Schreibtisch.

Als er das Abfallrohr in Herzform auf der ­Kommode sah, weinte er.

Die Zimmerfrau nahm ihn am Arm: «Sie hat immer von Ihnen geredet…»

Und er schluchzte noch mehr.

«Sie sind nun ein reicher Mann», eröffnete der Anwalt Ralf eine Woche später.

«Okay», sagte er.

Das Herz aus Abfallrohr kam in die Metallabfuhr.

Montag, 11. Mai 2015