Mach die Fliege!

Er war mitten in einem Mord.

Er kannte jeden Schritt. Wusste: Jetzt kommt das Gift in den Wein.

Genüsslich blätterte Hans auf die nächste Seite.

Miss Marple strickte an einer Socke.

Sie strickte schon zum 36. Mal an dieser Socke. Denn Hans hatte den Krimi bereits 36-mal ­gelesen.

Hans liebte Miss Marple. Er liebte Agatha ­Christie. Und er liebte die Krimis – auch wenn seine Nichten und Neffen die Nasen rümpften: «Man könnte doch wirklich etwas mehr ­literarisches Niveau von dir verlangen, ­Onkelchen … immerhin hast du eine A-Matur. Und hast du nicht auch den fried­lichen Buddhismus studiert?!»

Sie lächelten dann gutmütig – so wie man es einem leicht vertrottelten Greis freundlich ­nachsah, wenn ihm die Drittzähne schaukelten.

Hans war ein friedfertiger Mensch. Morde fanden nur in Agathas Schinken statt. Ansonsten: barmherzige Seele, die selbst eine ertrinkende Biene aus dem Fischweiher zog.

Mit 16 Jahren wurde er Vegetarier. Und machte seine Mutter madig: «Ich esse keine Spaghetti mit Hackfleischsauce!»

Sein Glaube ans Gewaltlose ging so weit, dass er alle Tiermorde verabscheute. Schon als Kind hatte er seine Mutter angefleht, diesen Mantel mit den reihenweise aufgenähten Nerzen NIE zu tragen.

Sie hatte ihm nur einen Klaps auf den Hinterteil gegeben: «Aha – dann kaufe ich mir eben einen Biber!»

Mit ihr war nicht zu diskutieren.

Später, als er sich mit dem buddhistischen ­Glauben befasste, hat er ihr oft klarzumachen ­versucht, dass in den Tieren vielleicht irgendein Ahne stecken könne …

Sie hatte verträumt gelächelt. Und davon geträumt, wie es wäre, ihre Schwiegermutter als Pelz am Hintern zu tragen.

Miss Marple wurde aus ihrer Strickerei gestört. Das Hausmädchen meldete die Nachbarin.

Auch Hans wurde gestört – «ummmmmm» machte eine Fliege.

Seit einer Woche flogen ihm die Fliegen im Chalet die Stube ein. Immer wenn die Bauern vor seiner Stube die Gülle frisch ab Fass auf die Matten spritzten, war das für die Fliegen wie Oktoberfest für Bayern:

RIESENFETE. SAUPARTY!

Nachts dann im Chalet: «Ummmmmm…»

«Na, na, na», drohte Hans nun dem Biest, das auf Seite 29 herumbummelte.

«Ummmmmmm» – sagte diese.

«MACH DIE FLIEGE!»

Nun wurde Hans doch etwas stinkig.

Er griff zu einer Zeitung. Schlug zu. Und «ummmmm» lachte die Fliege.

Hans verfolgte sie jetzt unbarmherzig – wie Miss Marple die Mörder. Nur weniger logisch.

Es schien, dass diese Fliege megaklug war.

VON WEGEN FLIEGENHIRN!

Wenn ihr das Geklatsche mit der Zeitung zu bunt wurde, flog sie einfach eine Runde höher. ­Dorthin, wo der etwas klein gewachsene Hans sie nicht erreichen konnte.

ABER WARTE!

Nun war in ihm eine Mordswut erwacht. Er holte den Esstischstuhl.

Und «ummmm» winkte sie von der ­Vorhangstange.

«ICH KOMME!» – brüllte Hans. Und stieg auf das Polster.

Dann ging alles sehr schnell: Stuhl kippt… Hans fällt … der Arzt diagnostiziert Hüftenbruch: «Sie müssen sofort unters Messer!»

Als er nach der OP wieder einigermassen klar war, verlangte er nach seinem Buch.

Er öffnete auf Seite 29.

Und «ummmmm» machte es.

Diesmal vom Lampenschirm.

Da beschloss Hans, künftig wieder Fleisch zu essen.

Montag, 20. Juli 2015