Cheese

Hugo genoss die Stille.

Es war eine November-Idylle.

Hin und wieder durchbrach der Trompetenton eines Elefanten das Schweigen der Natur.

Und lautlos segelten die letzten bunten Blätter zu Boden. Hugo liebte diese Morgen im Berliner Zoo – hier war er weg von der vermaledeiten Computertechnik seines Büros. Hier war Frieden, Ruhe – BIS ER DEN APPARAT SAH.

Es war so eine Automatenbox, die sich «CHEESE» nannte. Sie versprach eine wunderbare Postkarte. Man hatte lediglich Geld einzuwerfen. Den Anweisungen zu folgen. Und schon versprach die Kiste ein Foto in Multicolor auszuspucken.

Sujet: Zootiere. Und d u – CHEESE! – lachend neben einem Affen.

Hugo knübelte nach Münz. Er wollte so eine Postkarte den beiden Enkelbuben schicken – auf lustig wie: «OPA (links) MIT AFFE (rechts).

Er stellte sich also vor den Bildschirm. Der war in die Kiste eingebaut. Schon lächelte er sich auf einem Miniscreen selber entgegen.

Eine rote Schrift befahl blinkend, die Rauf-und-­runter-Taste zu drücken. So würde er ins richtige Format gerückt. Hugo drückte.

Einmal schwappte er oben, dann wieder unten aus dem Rahmen.

Endlich war er so weit: HUGO HATTE SEINE MITTE GEFUNDEN. Die Schrift befahl jetzt: «CHEESE – UND AUFNAHME!»

Also lächelte Hugo in das Loch über dem Screen: «CHEESE!»

Er lächelte sechs Minuten. Nichts passierte.

Ein kleines Mädchen tauchte im Bild auf: «Was tust du da?»

«Hau ab!» – meinte Hugo genervt. Er hasste es, in stressigen Momenten den guten Onkel zu geben …

Er war genauso gereizt, wie wenn sich auf seinem Bürocomputer nichts mehr tat.

Die Kleine war hart im Nehmen: «Gibt das ein Foto?»

«Ja – aber verpiss dich. Sonst bist du auch drauf!»

Die Kleine schwieg eingeschnappt.

Hugo wiederholte die ganze Prozedur. Dann: «CHEESE!» So lächelte er unbeweglich zum Loch, wo nun erstmals ein roter Punkt glühte.

«KOMMT DORT DER VOGEL RAUS?!»

«ZIEH ENDLICH LEINE!» – brüllte Hugo.

«DU BIST ECHT DOOF!», höhnte das Kind.

Das ROT war erloschen.

Hugo rüttelte nun wild am Kasten, sodass der Bildschirm aufgeregte Wellen schlug.

Schliesslich beruhigte er sich selber, so wie es ihm eine dieser Yoga-Tanten im Kaderkurs «Wie hole ich mich sanft runter?» eingepaukt hatte: «DURCHATMEN, HUGO … GANZ STILL, HUGO … ALLES IST GUT, HUGO … JETZT FANGEN WIR EINFACH WIEDER VON VORNE AN.»

So.

Rauf-runter-Position.

Und «CHEESE!»

«Weshalb lachst du immer so blöd in die Luft?» – meldete sich die Kinderstimme.

Er wandte sich zur Kleinen. «ZISCH AB – DALLI!», tobte er.

Da erhellte sich der graue Morgen. Es war wie damals, als er auf der Luzerner Umfahrung geblitzt wurde. Und für drei Monate das Ticket ­abgeben musste.

«JA VERDAMMICH!» – brüllte er jetzt.

«Man flucht nicht!», predigte die Kleine.

Und «dingdong» – freute sich der Apparat.

Er spuckte das Resultat aus: eine Postkarte mit einer Herde Zoo-Tiere. Der grosse Schimpanse schaute mit diesen wissenden Augen, die alles Computerelend dieser Welt schon ­registriert hatten …

Daneben: HUGO. (Aber von hinten)

In der Mitte zeigte die CHEESE-CARD ein kleines Mädchen, das einem der Kamera abgewandten Mann die Zunge rausstreckte. Der Mann war Hugo. Aber man erkannte ihn nicht.

Hugo war verwackelt.

Die Foto wurde n i c h t an die Enkel geschickt.

Montag, 16. November 2015