Der Tick

«Frau Sager - bei uns stiehlt niemand!» Die alte Frau zog grimmig die Lippen zu einem feinen Strich zusammen: «ICH WEISS, WAS ICH WEISS!»

Die Heimleiterin «Zum rosigen Lebensabend» wurde leicht stinkig: «Aha - und w a s wissen Sie?»

Anna Sager stierte an die weisse Wand. Dort beteten Dürers Hände. Und gaben auch keine Antwort...

«Es geht nicht an, dass Sie sich eine Überwachungskamera in Ihrem Altenzimmer anbringen lassen... das ist ein Misstrauenszeichen an uns alle... bestimmt haben Sie Ihr Nachthemd irgendwo verlegt »

WIEDER GRIMMIGES GESICHT: «Ich weiss, was ich weiss...!»

Am Abend rief ein total aufgebrachter Sohn seine Mutter an: «Ja spinnst du denn was soll der Scheiss SIE HABEN MIR GEDROHT, DICH RAUSZUSCHMEISSEN...» Die Stimme des Sohnes wurde nun sehr bestimmt: «Und wo sollst du dann unterkommen, bitte ?»

Hans hatte das Thema bei seiner Frau vor sieben Jahren schon angeschnitten: «Wir hätten noch das Kinderzimmer seit Natalie weg ist, brauchen wir es nicht mehr und...»

Die Gattin klar und deutlich: «NUR ÜBER MEINE LEICHE...!»

Die Oma kam ins «Zum rosigen Lebensabend». An Muttertagen und Heiligabend holte man sie ab - wie einen Brief im Postfach.

Hans jagte ins Altenheim: «Du hast doch einen gottverdammten Tick in der Rübe! Kannst du dich noch an die Verlobungsfeier von Hanny erinnern...?»

SIE WAREN ALLE FRÖHLICH AM TISCH DER SCHWIEGERELTERN GESESSEN. PLÖTZLICH HATTE ANNA AUF DAS WEISSE DAMASTTUCH GESTIERT: «Genau so eines ist mir vor einer Woche gestohlen worden...»

Peinliches Schweigen. Schliesslich meldete sich die Dame des Hauses mit belegter Stimme: «Sie wollen jetzt aber nicht sagen, dass ich...»

ANNA ZUCKTE DIE SCHULTERN: «Ich weiss, was ich weiss...»

Die Verlobung wurde einen Monat später aufgelöst - sieben Wochen danach erkundigte sich die Inhaberin der Wäscherei «Flocki», wann Frau Huber endlich ihr Damasttischtuch abzuholen gedenke...

Annas Tick hatte schwere Folgen - ihre Handtasche wog 6 Kilos und 400 Gramm, weil sie jeden Schlüssel darin mitschleppte. Ihre Schlüssellöcher waren alle mit einem Sicherheitskeil aus funkelndem Messing gespickt. Wenn Anna in die Ferien ging, brauchte sie einen starken Gepäckträger für die Plastiktasche mit den Schlüsseln.

«WER KLAUT SCHON EIN VER GAMMELTES PARCHET-NACHT HEMD EINER 80-JÄHRIGEN ALTEN?!», ereiferte sich Hans im Heim.

«Es fehlt auch immer mal Geld», flüsterte die Mutter verschwörerisch.

«Und das Nachthemd war praktisch neu hinter allem steckt diese bigotte Solothurner Pflegerin aus Maria stein »

Hans tobte: «DAS MÄDCHEN IST KAUM 20. SIE TRÄGT BESTIMMT ANDERE REIZWÄSCHE ALS EINEN VERGILBTEN PARCHET- FUMMEL MIT ENTEN-MUSTER!»

«Ich weiss, was ich weiss!»

Natürlich liessen auch die andern Heimbewohner jetzt Überwachungskameras in ihren Zimmern einbauen. Nur Louise Moll blieb resistent. Sie tat die Unkenrufe ihrer Zimmernachbarin Schmid als «dummes Zeug!» ab.

Immerhin konnte ihr Anna eine Mausefalle für die Schublade mit dem Geld aufschwatzen: «Uralter Trick - aber gute Wirkung!»

Nach vier Tagen, als die Alten eben beim Mittagskaffee im Essraum sassen, hörte man einen gellenden Schrei. Er kam aus dem Zimmer mit der Mausefalle. «Na also» - sagte Anna zufrieden...

VON DER HEIMLEITERIN ERHIELT SIE SPÄTER EIN EXTRA-DESSERT FÜR DIE GUTE DETEKTIVARBEIT.

Das Parchet-Nachthemd mit den Enten tauchte nach drei Wochen in Annas Kommode unter einem «Vergissmeinnicht»-Album auf.

Freitag, 11. Oktober 2019