Anne-Käthi und ihre Welt

Anne-Käthi Sarasin wartete auf das Tram.

Sie nahm immer das Tram. Autos konnten es ihr nicht.

Im Übrigen hatte Anne-Käthi nie einen Führerschein gemacht. Zu ihrer Mädchenzeit fuhren junge Frauen n i c h t selber Auto.

DESHALB ALSO BIS HEUTE: K E I N E STRASSENKUTSCHE. Und dies: obwohl sie sich tausend Limousinen und nochmals so viele Chauffeure hätte leisten können.

Anne-Käthi Sarasin war reich. Stinkreich. Und unauffällig.

Wenn einer die 92-jährige Frau an ihrem feinen Holzstock (grau) und im etwas schäbigen Wollmantel (schwarz) sah, hätte er nie geglaubt, dass das alte Mädchen bei Grosskonzernen als Grossaktionärin noch einiges mitzupfeifen hatte.

Allerdings: Anne-Käthi hielt es für angebracht zu schweigen. Und die gewonnenen Dividenden geräuschlos anzulegen: «Nachhaltiges Investment!»

«Nachhaltigkeit» war schon damals ein Modewort.

SIE HATTE NIE EINE SEKUNDE WIND UM IHR VERMÖGEN GEMACHT.

Schon als das kleine Mädchen dazu angehalten wurde, sein stählernes Sparkässeli durch einen unsympathischen Zackenschlitz mit den Batzen der Tanten und Paten zu füttern, wurde ihm eingetrichtert: «Nur Dummköpfe und Proleten reden über Geld. Unsereins hats. Und schweigt sich darüber aus...»

Als junge Frau wäre sie gerne im eisigen Basler Winter an die Wärme gereist. Irgendwohin nach Indien, wo alles so bunt und sonnig war. Eine Postkarte, die einen blühenden Orchideenast am Meer zeigte, ging ihr nicht aus dem Kopf.

«...und was sollen die andern denken? Säe nie Neid, sonst erntest du Sturm...», mahnte die Mutter.

Also fuhr Anne-Käthi wie jedes Jahr nach Langenbruck. Und musste sich dazu noch den sanften Trostspruch anhören: «Die Luft ist dort eh besser als bei diesen Indern...»

Sie hätte gerne Physik studiert. Aber zu Hause lachten sie die Tonleitern rauf und runter: «Das ist nichts für ein Mädchen. Du wirst eh bald heiraten...»

Sie konnte es nicht mit Männern. Und blieb ledig. «Fräulein Sarasin!» - ein Leben lang. Mit Betonung auf «Fräulein».

Immerhin - Anne-Käthi leistete sich eine Haushaltshilfe: Emmi. Sie bezahlte sie schlecht - war aber für sie da, als Emmi einen Schlaganfall hatte. Und nicht mehr gehen konnte.

Es war Anne-Käthi klar, dass es ihre Pflicht war, für Emmi zu sorgen. Also wurde eine Pflegerin angestellt. Und eine zweite Hausangestellte. Emmi lebte bis zu ihrem Tod im Haus von «Fräulein Sarasin».

Eine Nachbarin sprach Anne-Käthi auf der Strasse an: «Ich finde das mit Frau Emmi sehr nobel von Ihnen, Fräulein Sarasin...»

Die Angesprochene hob etwas indigniert die Schultern: «Wenn es einem gut geht, hat man eine soziale Verpflichtung. Guten Abend!»

Sie erfüllte ihre Pflichten, ohne dass schreiende Parteiparolen sie darauf aufmerksam machen mussten - und sie erfüllte sich nie den Traum von den Orchideenblüten in Indien.

Als Anne-Käthi in den Tramwagen stieg, machte ein junges Mädchen den Sitz frei: «Bitte - auch wenn Ihr Alten unsere Welt kaputt gemacht habt...»

Anne-Käthi lächelte etwas hölzern: «Das ist artig... danke schön!»

Sie schaute aus dem Fenster. Sie dachte an die vielen Farben in Indien. An die Sonne, die Wärme - an all das, was sie sich hätte leisten können. Aber sich nie hatte leisten dürfen.

Und sie sah eine graue, trübe Welt, in der das Lachen verloren ging. Und die es zu retten galt...

Freitag, 15. November 2019