Ave Maria

Rosa liebte den Chor.

Und der Chor liebte Rosa.

Die alte Frau sass als Einzige auf einem Stuhl. Sie konnte nicht mehr lange stehen.

Die andern wippten im Takt. Klatschten zu den Soul-Rhythmen.

Rosa wippte auf dem Stuhl etwas unbeholfen mit. Sie versuchte mit den Fingern zu schnippen. GING NICHT MEHR. Rosa hatte Gicht.

Sie zuckte die Schultern - und schaute entschuldigend zur Chorleiterin.

Doch Jenny blinzelte ihr aufmunternd zu: «Alles okay - Rosa. Du machst es sehr gut!»

Natürlich wusste Rosa, dass es n i c h t «sehr gut» war. Nicht mal okay. Rosa war mindestens doppelt so alt wie die andern Protagonisten des Chors.

Diana, welche mit ihrer hellen Stimme «Perfect Angel» als Solo sang, war kaum 30.

Rosa aber hatte eben ihren 80. Geburtstag hinter sich.

Jenny klopfte ab: «Pause!» Dann kam sie zu Rosa: «Ist die Probe zu anstrengend für dich?» Rosa schaute unsicher: «Eine alte Frau, die auf dem Stuhl mitsingt das ist doch lächerlich...»

Jenny schaute sie lange an: «Ohne dich schaffen wir es nicht, Rosa. Du bist so etwas wie die Freude im Chor - du singst aus vollem Herzen...»

Rosa hatte ein ganzes Leben lang gesungen. Schon als Kind hatte man ihre goldene Stimme entdeckt.

Bald kamen erste Auftritte. Mit 20 sang sie zum ersten Mal Schuberts «Ave Maria» an einer Hochzeit. Die Gäste redeten dann den ganzen Tag nur «von dieser goldenen Stimme». Die Braut war eingeschnappt. Rosa hatte ihr die Schau gestohlen.

Aber Rosa war kein Showtalent. Wenn sie alleine auftreten sollte, bekam sie weiche Knie. Das war keine gute Vorgabe für eine Primadonna.

Rosa wurde also Kindergärtnerin. Und sang mit den Kleinen. Später ging sie in den gemischten Chor ihres Dorfs. 50 Jahre lang. Jeden Mittwoch. Bis heute.

Anfangs hatte man sie an Konzerten mit ihrem «Ave Maria» noch ins Programm genommen.

Dann streikten ihre Nerven. Immerhin sang sie mitunter auch jetzt noch das Schubert-Lied. Etwa an Chorfesten. Oder im privaten Rahmen.

Immer wieder waren alle von der starken Stimme der alten Frau überrascht: «Heee Rosa du hast es noch voll drauf! Grossartig...»

Auch jetzt nahm Jenny ihre Hand: «Deine Stimme ist wunderbar, Rosa - ich brauche dich am Concours!»

Der Wettbewerb!

Jenny hatte die Bottminger Stimmvögel für den Weihnachtschorwettbewerb in Zürich angemeldet. Sie probten alle hart. Das Programm war auf Spirituals aufgebaut: «Mary Had a Baby» und Lloyd Webbers «Jesus Christ»-Song.

Natürlich waren sie beim Einsingen aufgeregt. Die Katastrophe kam, als Diana 20 Minuten vor dem Auftritt tränenüberströmt auftauchte: «Meine Stimme ist weg... überstrapaziert...»

Es gab keinen Ersatz. Niemand hatte diese starken Töne wie Diana.

Niemand?

Jenny schaute zu Rosa: «Du singst dein Ave Maria!»

Die alte Frau erschrak: «Das bringe ich nicht, Jenny nicht vor einer Jury... nicht vor diesem grossen Publikum...»

Jenny umarmte sie: «Rosa - du hast uns immer die Freude am Singen geschenkt egal, wenn wir hier abschiffen. Aber wir können denen zeigen, dass man in jedem Alter Freude am Singen haben kann...»

Als die alte Frau sich langsam von ihrem Stuhl erhob, war es ganz still im Saal.

Der Pianist gab das Zeichen... Als er die letzten Takte ausklingen liess, tobte der Saal.

Jenny führte Rosa an ihren Stuhl zurück. Das Publikum applaudierte immer noch.

Sie sangen jetzt «Jesus Christ». Rosa schnippte. GING NATÜRLICH NICHT. Die Gicht! Sie schaute entschuldigend zur Dirigentin.

Jenny heulte.

Freitag, 13. Dezember 2019