Märzenmorgen

Lina sass auf der Gartenbank. Noch zeigte sich die Natur grau. Dennoch ahnte man den Frühling - er warf da und dort einen grünen Schleier über die Wiese.

Erste Krokusse streckten sich zum Himmel. Wie winzige Farbtupfer auf der Malerpalette gaben sie Lina ein Zeichen: HALLO - DER WINTER IST VORBEI!

Lina fröstelte. Noch war es kühl. Sie zog ihren Mantel enger an sich.

Seit einem halben Jahr war Lina Witwe. Klaus hatte an einem Oktobermorgen einfach tot neben ihr gelegen. Also d e n Schreck muss man zuerst mal verdauen!

Klaus hatte nie Probleme gehabt - Herz gut. Blutwerte gut. Appetit gut.Und dann d a s: KALT NEBEN LINA.

Lina hatte die Augen fest zugekniffen. Alles nur ein Traum! Bald werde ich seine befehlende Stimme hören: «Wo bleibt der Kaffee!»

Aber sie hörte seine Stimme nie mehr. AUS MIT KLAUS!

Es war keine Filmehe gewesen. Nichts mit Romantik... Händchen halten... Herzhüpfen. Ein normales, laues Bad des Lebens - nicht heiss, nicht kalt. Gerade richtig, um es auszuhalten.

Klaus war ihr Chef gewesen. Er leitete als Chemiker in einer der grossen Pharmaindustrien ein Forschungsteam. Lina arbeitete als seine Sekretärin. Und war für ihn unentbehrlich.

Entsprechend machte er ihr den Antrag: «ICH GLAUBE, WIR GEHÖREN ZUSAMMEN! HÄTTEN SIE LUST, FRÄULEIN LINA?»

Er verlor die Sekretärin. Hatte aber jetzt im Haus eine Managerin, die ihm den Rücken freihielt. Und auf seiner Karrierelaufbahn den Weg sauberschaufelte.

Klaus war anspruchsvoll - dirigierte sie wie ein Hausmädchen herum. Nein. Svetlana, die polnische Zugehfrau, hatte es besser - da zeigte Karl noch einen gewissen Respekt. Aber Lina wurde behandelt wie eine Leibeigene: «Pack mir den Koffer für die Tagung... aber nicht wieder diese Krawatte mit den Golfschlägern! Was hast du dir letztes Mal auch dabei gedacht, Lina?»

Sie hätte gerne einen Dackel zum Trost gehabt. Klaus wehrte entsetzt ab: «Ich bin allergisch.»

Er begann eine Affäre mit der neuen Sekretärin. Sie war beruflich ein trübes Licht - aber vermutlich Hochglanz im Bett. Jedenfalls kaufte Klaus sich seidene Pyjamas für die Geschäftsreisen.

Lina hätte gerne Kinder gehabt. Funktionierte nicht. Und gegen einen Dackel war Klaus allergisch.

Also lebten sie nebeneinander her. Jeder sein eigenes Leben - Lina hatte nicht den Mut zu gehen. Vielleicht war es auch Bequemlichkeit.

Als sie ihm vorschlug, die Schlafzimmer zu trennen, redete er vierzehn Tage kein Wort mit ihr. Gekränkte Eitelkeit. DABEI HATTE ER FÜR LINA N I E EIN SEIDENES PYJAMA GETRAGEN. Immer nur T-Shirt. Und die Unterhose vom Tag in der Nacht.

Nachdem Klaus kalt wie eine Flunder neben ihr gelegen hatte, ging sie in die Küche. Und machte sich zuerst mal einen Kaffee. Diesmal ganz für sich alleine.

Als Svetlana dann zum Putzen erschien, sass Lina noch immer an der Tasse. Sie lächelte der Polin entgegen: «Mein Mann ist tot. Wir rufen jetzt den Bestatter an. Dann beziehen wir das Bett neu...»

Es brauchte eine gewisse Zeit, bis Lina mit ihrer neuen Freiheit zurechtkam. Sie ging auf eine lange Reise. Und floh alle Erinnerungen.

Dann kam sie mit neuen Plänen und Energie zurück.

Es war Linas erste Woche alleine im Haus. Sie schaute zum Himmel - die blasse Sonne streichelte jetzt zaghaft ihr Gesicht.

Lina fühlte auf der Gartenbank an diesem Märzenmorgen erstmals so etwas wie Wärme und Glück.

«OTTO!» - rief sie, «komm zu mir!»

Der Dackel legte sich vor ihre Füsse.

In eigener Sache: Das war die letzte Freitags-Kolumne. Ich lege mir einen Hund zu.

Freitag, 27. März 2020