Von dem wiedergefundenen Puppenkind

Als ich die Bücher an diesem Flohmarktstand mit den ­abgefuckten Barbie-Puppen und vergammelten Teddy­bären sah, griff eine eisige Hand an mein Herz.
ES WAREN MEINE BÜCHER. Sie trugen meinen Namen. MEHR NOCH: IN JEDEM STAND EINE SCHWUNGVOLLE WIDMUNG: für Luggi, ganz herzlich? Sechsmal für Luggi. Und immer mit diesem ­saublöden Herzchen auf dem i.
OGOTTOGOTT? O JERUM.
Innocents Interesse lag anderswo. Er liess sich von einem der Biel-Benkemer Bauern Schnaps vorsetzen. Und gab sich dort sehr wichtig? er tat so, als könne er einen Quittenjätter von Wundalkohol unterscheiden.
«Das ist mir jetzt aber sehr peinlich», kicherte die Frau am Barbie-Stand. «Es sind die Bücher meiner Mutter. Sie war Luggi. Und ist nicht mehr?»
Ich sagte nichts. Was soll man auch sagen? Nur geflüstertes «oh tut mir leid?». Und hastiger Blick auf die Nebenstände, wo ebenfalls alte Bücher herumlagen. Gottlob dort keine aus ­unserer Feder.
«Sie kam immer an Ihren Messestand», versuchte die Frau nun gut Wind zu machen. «Jedes Jahr hat sie bei Ihnen ein Buch gekauft.»
Gewispertes: «Wie nett.»
«Ja. Aber nur wegen des roten Gügglis. Sie war total scharf darauf. Als wir ihr Haus räumten, haben wir 23 von diesen grässlichen Tragtäschlein gefunden.»
«Ach?»
«Unsere Nachbarin Winnifried Bitterli hat sie ­gottlob alle entsorgt. Sie hat sich stets rührend um Mami gekümmert ? Luggi Schwander, ­erinnern Sie sich?»
Wie soll ich mich an Luggi Schwander erinnern? Damals liefen die Frauen zu Hunderten vor unserm Stand auf.
Sie kauften Bücher, weil sie das rote Güggli ­wollten. Kein Schwein war an den Geschichten interessiert. Nur an diesem roten Sack mit der ­aufdringlichen Signatur und den schwarzen Kordeln.
«Die Tragkordeln waren handgeknüpft», sagte ich, um etwas zu sagen.
«Ja, Frau Bitterli, die mit Mami auch immer wieder in die Memo-Klinik fuhr ? also Frau Bitterli hat gesagt, die Tragsäcke seien chinesische Kinderarbeit. So etwas wolle sie nicht in ihrem Keller haben.»
FRAU BITTERLI IST EINE DUMME SAU!
Wir haben die Tragsäcke von strammen Secondos mit italienischen Pässen in Rheinfelden knüpfen lassen. Ich kannte jeden der Knüpfer so genau, wie ich meine Säcke kannte ? von Kinderarbeit keine Rede! Die Italos zeigten alle Muckis vom Ausmass bolognesischer Mortadellas. Und alle fuhren sie heisse Schlitten mit noch heisseren Bräuten auf dem Kühler. KINDERARBEIT! ICH LACH MICH KRUMM!
«Die liebe Frau Bitterli irrt ? wir haben die Tragtasche in Basel entworfen und in Rheinfelden fertigen lassen. Chinesisch waren nur unsere Weihnachtsschlitten mit dem lachenden Schwarzwald-Klaus darauf und die Kuckucksuhr mit dem lustigen Vogel, der alle Stunde?FICK DICH INS KNIE!? rief.»
Die Tochter von Luggi Schwander kicherte wieder: «Also irgendwann haben Sie Mami auch eine Porzellanpuppe angedreht; ich habe sie dort hinten im Korb. Porzellanpuppen will heute keiner mehr. Gefragt sind bei den kleinen Mädchen rundum biegsame Kunststoffpuppen mit stabilem Nylonhaar. Ich finde so etwas echt krank, aber man kommt eben nicht gegen den Geschmack der Zeit an, nicht wahr?»
«Ja», nickte ich. Und äugte zum Korb hinter dem Standtisch. Ein Porzellanpuppenkopf schaute mich mit diesen unschuldigen, wässrig blauen Glasaugen an, wie sie Mode waren, als man sich noch nicht Linsen einlasern liess.
«Darf ich die Puppe mal näher anschauen?»
«Aber, aber», flüsterte Luggis Tocher nun anzüglich, «das sagen die Männer doch immer? aber ich wusste gar nicht, dass auch SIE? nachdem was man alles so hört?» (Und wieder kicherkicher.)
Ihre Glasaugen. Eigentlich war es keine Kinder-Puppe. Es war eine junge Frau mit Porzellan-Teint. Sie trug ein etwas zu üppiges Pariser Abendkleid an einem gewöhnlichen Samstag­morgen auf dem Biel-Benkemer Flohmarkt.
Ich schaute ins feine, zarte Gesicht. Und plötzlich wusste ich, weshalb Luggi dieses Porzellankind gekauft hatte ? SO hätte sie sich ihre Tochter gewünscht: zart, reine Haut und ohne dieses grauenvolle Piercing im Nasenflügel.
«Ich gebe sie Ihnen für drei Franken», meinte die gepiercte Luggi-Tochter. «Immerhin sind Sie ja fast der Vater?»
«Zwei fünfzig.»
«DU HEILIGE SCHEISSE ? ER MÄRTET UM SEINE EIGENE TOCHTER!», keifte jetzt die unangenehme Person.
Vom Nebenstand schauten sie interessiert.
Also suchte ich hastig nach Kleingeld. Warf es der Luggi-Tochter in die Blechbüchse. Und ging zu Innocent, der eben vom 50-prozentigen Aprikosenwasser kostete und Augenwasser hatte, wie er die Porzellanpuppe in meinen Armen schlafen sah.
Im Nu war er stocknüchtern. Und zischte: «Entsorge auf der Stelle diesen Kitschgräuel; auf so etwas kann man nicht einmal mehr auf dem Jahrmarkt schiessen!»
«Sie ist immerhin meine Tochter?», erklärte ich leicht gereizt.
«DANN TREIB SIE AB!»
In diesem Moment kam eine junge Frau auf mich zugerannt: «Ach, gottlob sind Sie noch da. Luggis Mädchen hat mich zu Ihnen geschickt.»
«Aha!»
«Ja ? ich habe alle Büchlein gekauft. Meine Oma liest Ihre Geschichten so gerne und da sie übermorgen Geburtstag hat? Könnten Sie ihr die Bändlein widmen?»
So wurde Luggi kräftig durchgestrichen. Und an Luggis Stelle steht nun: «für meine Omi, ganz herzlich?»
«Sie haben nicht zufällig noch so ein rotes Gügglein?», hörte ich nun die Enkelin.
EINE MEHR, DIE NICHT NACH DEM INHALT FRAGT.
«Nein», antwortete ich eisig. «Aber Sie bekommen ein Kind von mir?»
Damit war auch die Porzellanpuppe entsorgt. Vermutlich wird sie in ein paar Jahren zusammen Omis Büchlein irgendwo an einem Flohmarkt den Tag aufmischen.

Dienstag, 10. September 2013