Von den Flecken auf dem Sofa und den Insel-Grazien

Klar. Ich weiss: Sie sind froh, dass die «Rompiballe» geht. Und die Koffer packt. Natürlich zeigen sie es nicht. Sondern übertünchen ihre Freude mit Trauermienen. Und lassen es schwere Seufzer tröpfeln: «Ohhh Signore... quando torna...»
Um sie ein bisschen zu ärgern, verlege ich meine Rückkehr auf den 1. Advent vor. Sofort macht die Trauer blankem Entsetzen Platz: «TANTO PRESTO?!? Sie kommen doch nie so früh...»
«Es war ein Witz!» Sie lachen erleichtert auf. Und versprechen mir, die Vorhänge zu waschen. Und die Polster vom Sofa zu reinigen.
Die Textilien in unserem Haus sehen aus, als wäre eine Herde Wildschweine darübergaloppiert. Innocent behauptet: «Das kommt von DEINEM Zigarrenrauch!» Ich sage: «Es ist dein verschüttetes Bier!» Dann keifen wir ein bisschen rum. Die drei Hausgrazien setzen sich aufs Versaute. Und schauen uns interessiert zu. Sie verstehen kein Wort. Aber sie ermuntern mit einem Lächeln immer gerade denjenigen, der das Wort führt.
Ist dem Streit die Luft ausgegangen, zeigen sie auf ihre Ringfinger. Dort funkeln die Weihnachtsgeschenke vom letzten Krippenfest: «Sie sind einfach wunderbar», strahlen die drei. UND DAMIT IST KLAR, DASS AUCH DIESES JAHR ETWAS ÄHNLICHES UNTER DEM BAUM ERWARTET WIRD.
Anna-Maria hält mir das Haus sauber. Nun ja, RELATIV SAUBER. Dies seit bald 40 Jahren. Einmal brachte sie ihre älteste Tochter mit («Ihr Mann hat keine Arbeit mehr»). Die Tochter brachte dann auch ihre Älteste: «Das Leben ist schwer, Signore.» So habe ich drei Grazien, die unser Inselleben in Ordnung bringen.
Sie servieren mir täglich die Neuigkeiten vom Fischerhafen. Dazu fangfrische Sardinen. Denn erstens wohnt Anna-Maria direkt über dem «Porto». Und zweitens schickt sie ihren Alten schon frühmorgens aufs Meer hinaus. Dort muss er angeln. Tag für Tag. Aber ich bin mir nicht so sicher, dass er das auch gerne tut. Denn oft schon habe ich ihn bei Nando in der dunklen Hafenbar angetroffen, wo er mit seinen Kumpanen Karten spielt. Und bei meinem Auftauchen stumm die Finger an die Lippen legt. KLARES ZEICHEN: DU HAST MICH NICHT GESEHEN! Habe ich auch nicht. Also bringt mir Anna-Maria frische Sardinen: «Die sind von meinem Alten. Ein Gruss an Sie und Signore Innocente... Er hat sie gestern auf seinem Boot bei heftigem Wellengang gefangen.»
Wie gesagt: Das Boot ist Nandos Spelunke. Und das Einzige, was dort Wellen wirft, sind die fleckigen Spielkarten.
WO ER WOHL DIE SARDINEN HERHAT? Na ja? man sollte nicht zu fest hinterfragen.
Anna-Maria nimmt mir die Fische aus. Ein spitzes Messer skalpiert den Rücken. Mit Daumen und Zeigefinger packt sie den silbernen Kopf. Und schon hängt da das Rückgrat ohne ein Grämmlein Fischfleisch zwischen den seidenfadendünnen Gräten dran. Die Filets aber verteilt sie auf einem glasierten Tonteller. Träufelt den Saft von den jungen Zitronen darüber. Und würzt mit rosigen Pfefferkörnern sowie fein gehacktem Prezzemolo. Dann parfümiert sie das Ganze mit dem trüben, jungen Olivenöl, das jetzt noch auf der Zunge tanzt und diesen ganz besonderen, prickelnden Geschmack hat, bis es sich auf Ostern hin beruhigt und die goldene Farbe erhält.
Es fällt mir immer schwerer, nach längerer Zeit die Insel zu verlassen. Zu Hause erwarten mich Horrormeldungen über marode Pensionskassen, bankrotte Länder und hektische Gipfeltreffen. HIER IST DER ALLTAG DAS RAUSCHEN DER WELLEN. Und das einzige Hysterische das Gelächter der Möwen, wenn sie über den Felsen kreisen.
Auf der Insel findet die Welt nicht statt. Denn die Insel ist ihre eigene Welt. Und hat ihre eigenen Gesetze. Griechenland, Berlusconi, Frau Merkel und ihr Hosenanzug? alles weit, weit weg.
Hier dreht sich der Tag um die Frage, wie man die jungen Artischockenstauden vor den Wildschweinen schützen kann. Und wer beim Krippenspiel am Heiligen Abend im verdunkelten Porto Santo Stefano den Josef hergibt. Die Könige sind ja klar? das sind die drei dicksten Brüder vom Ort, die Fratelli Nanni, die in der Bar Centrale den Espresso so schwarz wie ihre Fingernägel servieren. Aber Josef ist vakant. Die Schuld liegt bei den blauen Augen von Antje. Sie kam mit einem Kreuzfahrtschiff Anfang Juni auf die Insel. GROSSES LIEBESDRAMA. Josef verliess seine Maria samt den vier gezeugten Jesuskinderm. Nun arbeitet er in einer Käsefabrik bei Edam. Die Frage, welche die Inselwelt beschäftigt: WEN stellt man der jammernden Maria zur Seite?
ICH MEINE: DAS SIND DIE THEMEN, WELCHE DIE MENSCHEN HIER BEWEGEN! UND DIE ZIEHUNG DES MILLIONENLOSES.
Die Rompiballe zurrt an der Reisetasche den Reissverschluss zu. Rompiballe bedeutet übrigens auf etwas unfeinere Art so viel wie «Nervensäge». Oder eigentlich: «einer, der einem die Eier zerquetscht»!
Ich umarme meine Grazien. Nun haben sie tatsächlich Tränen in den Augen? vermutlich weil ihnen das Unterhaltungsprogramm davonläuft. Denn natürlich sind wir der News-Stoff, den sie abends bei ihren Lieben zu Hause zelebrieren. Sie winken. Dabei schauen sie, dass ihre Ringe in der Novembersonne richtig funkeln.
«Weihnachtsgeschenke für die Grazien!», schreibe ich noch rasch in meine elektronische Agenda.
«Denkt an die Vorhänge!», rufe ich.
Und weiss, dass doch nichts passieren wird. Denn die Insel ist die Insel. NICHTS IST IM FLUSS? alles bleibt sich gleich.
Auch die Flecken auf dem Sofa.

Samstag, 19. November 2011