Von Babà al Rum und der Primadonna in Noto

Illustration Rebekka Heeb

Innocent ist auf Kultur getrimmt.

Er mag es, den griechischen Tempeln nachzustiefeln.

Er kann stundenlang in tropischer Hitze bei herummuckenden Mücken römische Mosaike deuten.

Und er wird nicht müde, mir vor einer staubigen Kirche immer wieder dieselbe alte Leier über den Vorzug des geschwungenen Barocks vorzupfeifen.

DAS IST NICHT MEINE WELT.

Ich lebe im Jetzt und Heute. Und JETZT heisst: Lust auf Pasta Norma und das Punschgebäck Babà al Rum mit viel, viel Schlagrahm drauf.

«KULTURSAU!» – ist die Antwort.

So etwas lässt mich kalt. Kultur hat nämlich viele Gesichter. Und eines ist dasjenige von Babà al Rum mit Schlagrahm drauf.

Ich kann stundenlang auf einer schattigen Piazetta hocken und dem Alltag zuschauen. Neben mir machen sich dann ebenfalls alte Männer breit. Sie kauen Tabak, mümmeln an kalten Zigarettenstummeln oder schieben gläserne Zitronen-­bonbons durch den zahnlosen Mund.

Ihre Kultur, die ihnen noch geblieben ist, sind Gichtschübe, über die sie sich in theatralischer Mimik auslassen. Oder die Verdauung. Also darüber können sie sich stundenlang ereifern.

Sie palavern über zu grüne Tomaten, die des Teufels sind und ihre Därme wie volle Gartenschläuche aufblähen lassen.

SIE ERZÄHLEN NOCH MEHR. Es ist interessant. Aber hier vielleicht nicht der richtige Ort, all das Unschöne wiederzugeben.

Ich schaue den Grossmüttern zu, die in liebevoller Verklärung ihre fetten, kleinen Schreihälse «Engelchen» nennen. Und die herumtobenden Ungeheuer alle zehn Minuten an ihre runter­gestrauchelten Brüste drücken.

Und ich erfreue mich an den Dorf-Teenies, die in knappsten Mini-Shorts sowie mit einem Pfund kirschrotem Lippenstift aufgerüscht immer wieder die verkehrsberuhigten 50 Meter der ­Einkaufsstrasse rauf und runter paradieren.

Die Ragazze werfen den Jungs, die im Schatten des riesigen Eucalyptus-Baums lässig herumstehen, eindeutige Blicke zu. Und die Ragazzi tun, als sähen sie die schönen Mädchen nicht. Doch unisono greifen sich alle an ihren Jeans-Schlitz. Unbewusst. Reflexartig. Auch dieser Griff ist Kultur.

DAS GREIFEN ZUM HOSENSCHLITZ LIEGT IN DEN ITALIENISCHEN MÄNNERGENEN, WIE DIE BEWUNDERUNG FÜR FUSSBALL UND SCHNELLE AUTOS. Ich meine: Das ist Alltags­kultur. Und diese Kultur erzählt mir an jeder Strassenecke, aus jedem Beichtstuhl und hinter jeder Sanddüne Tausende von Geschichten.

«Zzzzz», seufzt Innocent theatralisch. Und lässt mich meine Tramkind-Wurzeln schmecken.

Tatsächlich war mein lieber Vater ähnlich gelagert – auch mehr der Wackelpudding-Typ. Da konnte die gute Ehefrau lange private Reiseführer aufbieten, die ihren Ehemann auf einem andern Gebiet als nur demjenigen der schönen Weiblichkeit aufklären sollten.

NACH FÜNF MINUTEN BAROCK SCHNARCHTE DER ALTE SCHON.

Nur einmal, als ihn ein Cicerone in Pompei in jene verbotenen Zimmer führte, wo die Lava des Vesuv die Paare und Gruppen beim Liebe- machen überraschte und ihre diversesten Stellungen für die Nachwelt konservierte, da blieb er wach. Und kommentierte dann nach der Heimreise lauthals bei Loppachers am Stammtisch: «Also das war schon vor 2000 Jahren eine feurige Sache.»

WIE GESAGT: AUCH DAS IST KULTUR.

Umbertos ätzende Schlagseite, seine spindeldürre Freundin Lucia machte natürlich das grosse Kulturtheater aus meiner Ignoranz. Die dumme Dreckschleuder schielte anbiedernd zu Innocent, bei dem sie schon vorher literweise den Schleim mit «Hast du aber schönes Haar» und «Was du nicht alles weisst» versprüht hatte. Entsprechend spielte sie ihr Foul aus, als ich mich weigerte, die Barockstadt Noto aufzusuchen: «Du bist aber ein Banause. Nimm dir an deinem jugendlichen Freund ein Beispiel; Sizilien hat mehr zu bieten als so ein Punschgebäck, das wie ein Penis aussieht!»

Die Tranflöte spielte da auf meine zweite Portion vom zartflaumigen Punschkuchen an, den die Sizilianer wie auch die Neapolitaner in sinnlicher Freude als Penis servieren.

«Ich war schon drei Mal in Noto», maulte ich.

«Dann fahre ich mit Umberto und Innocent eben alleine hin», säuselte diese Mieszicke.

UND DAS DANN DOCH NICHT!

Ich meine: Ich lasse doch nicht zwei Prachtmännern von diesem baufälligen Zahnstocher den Barock erklären.

Nun gibt es in Noto aber nicht nur frisch herausgeputzten Barock – es gibt auch ein allerliebstes Theäterchen. UND DAS WUSSTE DER ZAHNSTOCHER NICHT.

Da ich um Innocents Vorliebe für alte Konzerthäuser wusste, zeigte ich auf das Gebäude des Teatro di Lorenzo: «Das ist die Wiener Oper im Taschenformat – wollen wir uns das nicht reinziehen?»

Natürlich war er Feuer und Flamme. Ich bestach den Bühnenmeister. Und wir durften alle rein.

Das «piccolo teatro» ist wirklich ein Traum, auch wenn sie heute dort nur noch «LA VEDOVA ALLEGRA» auf dem Programm haben.

«Bei jenem Kreuz auf dem Bühnenboden, ­stehen immer die Primadonnen», flüsterte ich zu Lucia. Das Stinktier hatte nämlich die Unverfrorenheit gehabt, bei uns dick aufzukleistern, sie habe früher auch gesungen. Ganz grosse Nummer und so.

«Die kann doch nicht mal ‹Hänschen Klein›», zischte ich zu Innocent. Und gab dem Bühnenmeister ein Zeichen.

Die Ex-Primadonna hatte sich nämlich in Positur geworfen und wollte auf dem Bühnenkreuz tatsächlich ein paar Töne aus der Wahnsinnsarie losbrettern – aber da fuhr sie mit dem hydraulischen Bühnenlift auch schon in die unteren Gewölbe. UND SOMIT ZUM TEUFEL.

Aus dem Keller des Theaters hörte man nur noch Gekeife und Gekreische.

«Kultur hat auch schöne Seiten», nickte ich Innocent zu. Und verliess den Ort des Dramas.

Beim nächsten Strassencaffè pfiff ich mir nochmals zwei Babà al Rum rein. Mit viel Schlagrahm.

Zugegeben: nicht die Art des feinen Mannes – aber Kultur ist, was Spass macht.

Dienstag, 8. Juli 2014