Von der Flucht vor Weihnachten und der Kälte in Malaga

Illustration: Rebekka Heeb

Marlies stand vor dem geöffneten Koffer.

Im Radio schmetterte Frank Sinatra «White Christmas».

«Nein danke!», brummte Marlies. Drückte den Out-Knopf. Und überprüfte nochmals ihre Sachen: Strandsandalen... drei hauchdünne Blusen... Sonnencrème, Faktor 50 (sie war rothaarig und hatte eine hyperempfind­liche Haut) – dann zwei Bikinis (sie machte auch mit 50 Lenzen noch eine gute Figur), ein boden­langes Seidenkleid (falls das Hotel zu irgend so einer idiotischen «Gala-Dinner-Soirée» blies).

Und vier Sonnenbrillen.

So wie andere Frauen auf Schuhe fuhr Marlies auf Sonnenbrillen ab.

Vor zwei Wochen war sie durch die weihnachtlich düüdelnde Stadt gezogen. Glühweinluft ­verströmte süssliche Halleluja-Düfte. Da sah sie das Plakat in einem Reisebüro: eine spanische ­Flamenco-Tänzerin neben einer riesigen Pfanne voll mit Paella.

Marlies hasste Paella.

Noch mehr hasste sie Weihnachten. ­DESHALB: NICHTS WIE WEG!

Sie buchte das Festtags-Reisepaket: «AB AN DIE SONNE! – MALAGA VERWÖHNT SIE».

In Kleinschrift konnte man lesen:

Heilig-Abend-Buffet inbegriffen.

Marlies kannte Malaga nicht.

ABER SIE KANNTE IHREN DURCHHÄNGER AM 24. DEZEMBER!

Also gab sie ihren 13. Monatslohn daran, um all diesem Psychostress davonzufliegen.

Früher, als Nico noch klein war, hatte sie das Fest geliebt.

Marlies war eine alleinerziehende Mutter. Sie wollte keine Beziehungskisten. Sie wollte nur Nico.

Und als sich dessen Erzeuger aus dem Staub machte, war das Marlies nur recht gewesen.

Zusammen mit Nico hatte sie jeweils ­gemeinsam den Baum geschmückt. Jedes Jahr durfte sich der Kleine am Weihnachtsmarkt drei neue Kugeln aussuchen. Nico liebte das Glimmerzeug – besonders die Kugel mit der überzuckerten Kirche.

«Schön», sagte er ergriffen. Und wählte sie neben einem gläsernen Fliegenpilz und einem verschneiten Tannenzapfen aus.

«Er wird sicher schwul», dachte Marlies. Aber es war ihr egal.

Später hatte er die Kirche immer als Erstes am Baum gesucht – auch noch, als er gross war. ­ Gross und schwierig.

Zuerst hatte sie nichts bemerkt – dann hatte eine Freundin sie auf die Augen des Jungen ­aufmerksam gemacht: «Marlies – er kifft!»

Sie sprach mit ihm. Lange und eindringlich. Aber nach dem Shit kam die Spritze. Und Nico war kaum mehr zu Hause.

Als er sie bestahl, tobte sie. Weinte. Eines Tages hatte er sein Zimmer geräumt – war weg.

Er war 18. Erst 18! Und sie wusste nicht, wo er steckte. Sie hämmerte die «Message-Box» seines Handys voll.

KEINE REAKTION.

Sie alarmierte die Polizei. Da hatte man ein freundliches Lächeln. Und ein Schulterzucken: «Wenn Sie wüssten, wie viele Eltern bei uns vorsprechen, weil ihre Brut weg ist...»

Marlies war verzweifelt. Nico hatte sich ganz einfach aus ihrem Leben geschlichen.

SIE WAR ALLEINE. FÜHLTE SICH ­VERLASSEN.

Und deshalb: keine Weihnachten mehr!

In Malaga war dann alles anders als auf dem Prospekt: Es zog ein eisiger Wind durch die Gassen, die ohne südspanische Sonne trist und grau ­aussahen. Der erste Gang von Marlies führte ­ in die Stadt, um sich mit einer dicken Wolljacke einzudecken.

Immerhin – das Hotel war ok. Sauber. Doch kaum 20 Schritte weiter war ein Park und die ­Reiseleiterin warnte die Gruppe: «...voll von ­Junkies...passen Sie auf...tragen Sie nie viel Geld auf sich...die stehlen wie die Raben...»

Marlies dachte an Nico.

Immer wenn sie irgendeinen Junkie sah, musste sie an ihn denken. Was er wohl tat? Wie er sich durchs Leben brachte? Vor allem: ­ WIE GEHT ES IHM?!

Marlies trug die Last bleischwer im Kopf und im Magen herum.

«Sie müssen das einfach ausschalten...», hatte ihre Psychologin ihr geraten, «...denken Sie an das Gute von Nico zurück! Das hilft.»

DAS HALF EINEN SCHEISSDRECK!

Wie tausend Bienen surrten die Gedanken in ihrem Kopf: «Mit wem lebt er? Wie kommt er über die Runden?»

Immer wieder hatte sie versucht, sein Handy anzurufen. Bis zu dem Tag, als eine Apparatenstimme ihr sagte: «Auf dieser Nummer können wir keinen Teilnehmer ausmachen...»

Sie liess sich krankschreiben. Und heulte ­sieben Tage und Nächte lang die Kissen voll.

Die Reisegruppe war am Flughafen in einen Bus verfrachtet worden. Zusammen mit andern Grüppchen wurden alle in die Stadt geschaukelt.

Marlies hatte sich wie in einer Schafherde gefühlt – ein einsames, verlorenes Schaf, dachte sie. Und korrigierte sich seufzend: «Nein. Eine dumme Gans! Das hier ist doch total krank – vier Sonnenbrillen, zwei Bikinis und null Grad!»

Man bot eine «Welcome-Sangria». Und zum Nachtessen wurde eine Weihnachts-Paella ­angekündigt. Mit Tanz.

Sie floh.

In der Stadt hockte sie sich in eine Tapas-Bar. Und hätte am liebsten geheult.

Sie mochte auch keine Tapas.

Als sie ins Hotel zurückwollte, sah sie einen jungen Mann mit einem Hund. Er sass auf einer Kirchenstufe. Neben ihm lag der verlauste Köter – vor ihm lag ein verschmutztes Kartonschild: «ICH HABE HUNGER!»

Für einen kurzen Moment blieb Marlies ­stehen. Unwillkürlich begann es im Kopf wieder zu surren: «Was macht Nico jetzt…wie feiert er Weihnachten?…hat er zu essen?»

Dann gab sie sich einen Ruck. Und sprach den jungen Mann an: «KOMM MIT!»

Er schaute etwas unsicher. Er war vermutlich knapp über 20 – nun ja, so alt wie Nico.

SCHON WIEDER NICO!

An der Ecke gabs einen dieser McDonald’s-­Läden. Die Bude war fast leer. Und das Personal stand lachend bei der Friteuse – und trug düdelnde Santaklaus-Mützen auf den Köpfen.

Marlies bestellte zwei Big-Burger. Und drei Portionen Fritten.

«Da» – sie streckte das Tablett dem Mann ­entgegen. «Frohes Fest – und gib dem Hund auch etwas ab!»

Vermutlich verstand er sie nicht. Jedenfalls schüttelte er nur immer wieder den Kopf. Und nannte sie «Lady». ...«Thank you Lady»...«Feliz Natal, Lady…»

Marlies wollte und konnte jetzt nicht ins Hotel zurück. Sie war zu aufgewühlt. Wieder diese ­Bienen im Kopf…wieder dieses Summen.

WIEDER MAGENKRÄMPFE. UND WÜRGEN IM HALS.

Sie ging zurück zur Kirche, wo sie den jungen Mann angetroffen hatte. Und sie setzte sich auf eine der Holzbänke.

Es roch nach Weihrauch. Und nach ver­rauchten Dochten.

Eine Alte zündete eine Kerze an. Und ging vor der Heiligen Mutter auf die Knie. Dann knetete sie murmelnd ihren Rosenkranz.

Später hatte die Frau Mühe, wieder hochzukommen – Marlies eilte zu ihr. Wollte ihr helfen. Aber die Alte wedelte sie energisch fort.

Eine Orgel spielte. Und jetzt heulte Marlies hemmungslos drauflos.

Die Tränen taten ihr gut – sie waren wie ein Weihnachtsgeschenk. Und erleichterten sie.

Die Mutter Gottes schaute auf Marlies herab. In den Armen hielt sie ihren Sohn.

Marlies heulte wieder.

«Du könntest wenigstens an seinem Geburtstag etwas Mitleid mit andern Müttern haben…», schluchzte sie nun zum Madonnenbild.

Maria sagte nichts. Aber lächelte.

Die ersten Besucher der Mitternachtsmesse tauchten auf. Marlies fühlte sich plötzlich besser. «Gott bin ich dumm…Sonne in Malaga. Und ich frier mir hier die Zehen blau…»

Dann grinste sie über sich selber. Und machte sich auf den Weg zum Hotel.

In der schmalen Gasse wurde sie von drei ­jungen Junkies angehalten. Einer hatte ein Messer: «Money» – sagte er nur. «Give all the money!»

Marlies zitterte. Sie schaute in die abgelöschten Augen mit den grossen Pupillen. Die Bienen meldeten sich. Und sie spürte eine unendliche Traurigkeit.

«Hello Lady», hörte sie jetzt eine Stimme. Sie erkannte den jungen Mann mit dem Hund. ­ Er redete spanisch auf das Trio ein. Insgeheim machte er ihr ein Zeichen, schleunigst zu ­verschwinden.

Sie rannte davon. Ihr Herz hämmerte, als sie vor der Hoteldrehtüre stand.

Im Innern war es hell. Neonsterne funkelten. Eine Band spielte. Und die Reisegesellschaft war eben daran, sich zu einer Polonaise zu formieren.

«DAS NICHT AUCH NOCH!», heulte Marlies nun auf. Und ging die Treppe hoch.

Ihr Handy surrte. Unbekannte Nummer. Sie wollte das Gespräch eben abdrücken, als sie eine Stimme rufen hörte: «Mamma – Mamma, wo bist du?»

Sie erstarrte. Zitterte. Das Summen im Kopf hatte abrupt aufgehört.

Dann leise: «Nico?...NICO!»

«Wir wollten die Schneekirche an den Baum hängen...», hörte sie seine Stimme, «aber da ist kein Mensch zu Hause. Und es gibt auch keinen Baum...»

Marlies fühlte, wie ihre Beine nachgaben. Sie setzte sich auf die Steintreppe: «Nico. Geh bitte nicht weg. Ich bin in Malaga. Morgen nehme ich das erste Flugzeug – nicht weggehen...»

«Sie ist in Malaga», hörte sie Nico sagen.

«MALAGA?» – das war eine fremde ­Frauenstimme.

Nico meldete sich wieder: «Das ist Ines. ­ Meine Freundin. Sie hat mich aus all dem ­Schlamassel rausgeholt…wir sind seit zwei ­Jahren zusammen…»

«Nico», weinte jetzt Marlies, «bitte wartet auf mich…geh nicht wieder weg…bitte!»

«Ist ja gut, Mam…nicht weinen…alles ist gut», hörte sie ihren Sohn.

Dann meldete sich die Frauenstimme. «Ich freue mich, Sie kennenzulernen, Marlies…hats irgendwo Bettwäsche?»

Als ein Kellner die heulende Marlies später auf der Treppe sitzen sah, kam er zu ihr gerannt. «Alles gut, Senora?»

Sie strahlte jetzt: «Alles gut! Alles wunderbar. Morgen früh reise ich ab…»

Als der Steward die Passagiere bat, sich zur Landung anzuschnallen, meldete er: «In Zürich schneit es bei drei Grad!»

Marlies’ Sitznachbarin lächelte: «Wie schön – das wird eine weisse Weihnacht…»

«Ja», nickte Marlies leise, «eine wunderbare Weihnacht…»

Donnerstag, 24. Dezember 2015