Von der etwas anderen Puppe unter dem Baum

Illustration: Rebekka Heeb

Wir waren Weihnächtler.

ALLE.

Etwas Schöneres kann einem Kind nicht passieren.

(AUCH WENN DIE MIESMACHER HEUTE DAGEGEN MECKERN. UND MEINEN, MAN SOLL DIE KLEINEN VOR DEM BÖSEN KONSUM FERNHALTEN – ICH LIEBE ES, DIE DINGE AUF WEIHNACHTEN HIN KRACHEN ZU LASSEN.)

Also: Es muss mir keiner mit der ausgelutschten Leier «zu unserer Zeit hatten wir noch Freude an ein paar Strümpfen!» kommen.

FREUDE AN STRÜMPFEN HATTE ICH NIE – na ja, nur einmal, als Onkel Alphonse mir so aus Jux ein Paar Nylons mit Naht unter den Baum legte…

Weiche Geschenke waren von vornherein suspekt. Meistens beinhalteten sie etwas zum Anziehen – NA TOLL. UNTERHOSEN! Und am schlimmsten war das zusammengeschnurpelte Pack in Kugelform: Jahr für Jahr schenkte mein naiver Vater mir einen Fussball. Er glaubte damals an ein Wunder – wie die Menschen jetzt beim FCB.

ALSO: ICH WOLLTE NUR H A R T E S.

DIES IN SCHACHTELFORM. Feste Päckchen waren vielversprechend – da konnte allerlei Lustiges drinstecken: etwa «die kleine Krankenschwester» mit allen Utensilien fürs «Döggderli-Spiel». Oder: «Katja – die Puppe, die alles kann!» Man gab ihr den Schoppen. Und sie nässte.

SO ETWAS MACHTE FREUDE!

Das Höchste aller Glücksgefühle bescherte mir aber Tante Gertrude mit «Lara»: Es war eine Puppe, auf deren rosigem Kunststoffschädel echtes Haar aufgepeppt war.

Aber hallo! Der Bub durfte die Puppenperücke waschen, wickeln, föhnen – ich färbte die Locken sofort von aschblond auf rot! Und zurück.

Die Frauen der Familie riefen entzückt: «Er wird bestimmt Coiffeur … ach Lotti, du hasts gut: ein Sohn, der dir die Dauerwellen gratis legt.»

Die Mutter schaute dann auf ihren Sohn, als wollte sie ihn auf der Stelle umföhnen!

Viele Weihnachtsfeiern nach den Nylons mit Naht habe ich mich bei Onkel Alphonse dann mit einer Puppe für sein Damenstrumpf-Witzlein revanchiert.

Es war Schluck-Willy gewesen, der mir den Tipp für das etwas schräge Geschenk gegeben hatte.

«Willst du ihn w i r k l i c h überraschen?» – fragte er mich eines Tages im Advent. «Dein Onkel steht nämlich auf Puppen. Und ich weiss, wo man so etwas bekommt – ist aber schweineteuer…»

Erstens fand ich Schluck-Willy ein geiles Mannsbild. Und zweitens war ich geschmeichelt, dass er sich mit mir abgab.

Im Übrigen drückte er mir stets einen nassen Schmatzer auf die Backe. Der Schmatzer roch wunderbar nach Fernet-Branca. ABER IN EINER ZEIT, WO KÜSSE VON MANN ZU MANN NUR IN DER SOWJETUNION DEN KALTEN KRIEG AUFTAUTEN, WAR ICH NACH WILLYS SCHNAPS-SCHMATZERN HEISS.

Deshalb: «Ich komme mit dir hin, wo immer du willst – oh Willy! Kaufen wir also die Puppe für Alphonse!»

Nicht nur mein lieber Vater, auch sein Sohn war so etwas von naiv.

Er nahm den kleinen Buben an der Hand. Und entführte das Kind ins Kleinbasel.

Erstens lebte er dort in einer schummrigen Zweizimmerwohnung an der Feldbergstrasse. Und zweitens gabs in einem Seitengässlein ein kleines Geschäft, in dem eine dicke, stark geschminkte Frau Heftchen mit nackten Weibern drin verkaufte.

Das Geschäft hiess «zur heissen Trudy». Es war in Kennerkreisen ein Begriff.

Heute bekommt man das, was dort gezeigt wurde, in jeder Bachelor-Show in die Stube serviert.

ABER DAMALS WAR EIN NACKTER BUSEN D I E GROSSE SACHE – NICHT NUR OPTISCH. Ich meine: Die Männer blätterten in einem Hinterzimmerchen die Frauen und ihre Busen durch. Entsprechend waren die meistens schon ziemlich abgegriffen (die Heftchen).

Ich habe mir also die Frauen auch angeschaut. Doch nur eine von ihnen hat mich in Wallungen gebracht: Sie hatte einen Teddybären zwischen ihre prallen Möpsen geklemmt.

«Das gefällt dir, Bubi, gell!», strahlte Willy.

«Ja – so einen Teddybären möchte ich auch!»

Schluck-Willy gab mir eine Kopfnuss: «Du wirst es schon noch lernen…»

ICH LERNTE ES NIE.

Nun wandte er sich an die Dicke: «Trudy-Schatz – der Kleine ist an einer deiner Puppen interessiert. Als Weihnachtsüberraschung für Alphonse…»

Trudy nickte. Natürlich kannte sie meinen Onkel. Er gehörte auch zu den Stammkunden im Hinterzimmer: «Dein lieber Onkel wird sich freuen… Ich denke, das Modell ‹Molly› wäre die Richtige…»

«Es darf schon etwas Rechtes sein…», gab ich dick an. «Ich habe drei Franken und zwanzig Centimes gespart!»

Die dicke Trudy lachte schrill auf – «das reicht nicht mal für die Aufblaspumpe, Kleiner!»

Aber Willy zwinkerte ihr zu: «Lass mal – den Rest lege ich drauf. Das ist mir der Spass mit Alphonse unter dem Weihnachtsbaum wert…»

Die Puppe lag etwas krumm und flach gedrückt in einer grossen Schachtel. Sie stierte mich verloren an. DAS WAR NICHT DIE PUPPE, DIE ICH DAUERGEWELLT HÄTTE!

«Sie braucht ein nettes Kleidchen… etwas mit Rüschen…»

Trudy holte ein seltsames Spitzenhöschen: «Hier, die Rüschen schenke ich dazu …ich mache dir ein schönes Weihnachtspaket…»

Sie gab sich wirklich Mühe: Goldpapier… viele fröhliche Bänder… und eine rote Stoffrose, die sie an einem Négligé einfach weggeschnitten hatte…

ES WAR DAS LÄNGSTE PAKET, DAS AN JENEM HEILIGEN ABEND UNTER DER TANNE LAG!

Natürlich stierten alle gespannt, als Alphonse die Schachtel aus dem Goldpapier hervorzog.

Er wurde bleich. Und deckte sofort alles wieder mit dem Geschenkpapier zu: «Du guter Junge…», gluckste er. «Das will ich hier nicht vor aller Augen zeigen… das ist unser Geheimnis…!»

Mutter jedoch stierte auf die Bänder, mit denen die dicke Trudy das Pack verschönert hatte: «Das sind Strapse!»

Sie atmete tief durch. Und startete abrupt mit «Stille Nacht…».

Die Familie fiel etwas erstaunt ein. Als alle bei «schlaf in himmlischer Ruuuhh…» angekommen waren, hatte Alphonse seine «Molly» ausser Schussweite gebracht…

Mutter aber schaute mich während des Gesangs immer wieder kritisch an – ich glaube, es war der Moment, als ihr bewusst wurde, dass ich ihr doch keine Dauerwellen legen werden würde…

Dienstag, 11. Dezember 2018