Von coolem Design und einer Erbschaft

Illustration: Rebekka Heeb

«Du hast geerbt!»

Innocent wedelt mir einen Wisch entgegen. In den Augen das Dollarzeichen - im Schnauz die Resten von Rührei.

INNOCENT ÖFFNET ALLE MEINE POST. ICH MEINE: PRIVATBRIEFSPHÄRE - NULL. NADA. NICHTS!

Auch wenn jemand «persönlich» auf das Couvert schreibt, liegt es dann sauber mit dem Brieföffner aufgeschlitzt auf meinem Frühstücksteller.

WAS NÜTZT MIR EIN IMMER SO LAUT HERUMPOSAUNTER DATENSCHUTZ, WENN ZU HAUSE DIE POST ABGEHT.

Als Kind schon habe ich erdulden müssen, dass meine lieben Eltern keinen blassen Dunst von der Privatsphäre eines pubertierenden schönen Kindes hatten. Freunde, Lovers, Briefkameradinnen mussten alle über die Adresse meiner Freundin Rosie an mich gelangen. Einmal nahm mich mein Vater zur Seite: «Es beunruhigt mich, dass du keine Freunde hast... NIEMAND SCHREIBT DIR BRIEFE! Du musst an dir arbeiten, Bub.»

Ich arbeitete schon länger an mir, als der liebe Papa ahnte...

UND JETZT ALSO INNOCENT MIT DER EPISTEL DER ADVOKATUR «HAMMER UND SCHNEIDER».

Herr Schneider schreibt mir persönlich: «Meine Klientin Louise Leimbacher hat Ihnen etwas vermacht. Darf ich Sie bitten, in meiner Advokatur vorzusprechen...»

Innocent ist ganz flatterig: «Wer ist diese Leimbacher? Wie kommt sie dazu? Vielleicht sind wir jetzt reich?»

«Die Hälfte geht eh an den Staat!», knurre ich. Und: «Leimbacher? Leimbacher Louise? Irgendwie sagt es mir etwas.» Und dann kam es wie ein Blitz über mich: LOUISE! Natürlich - wir nannten sie nur Lieschen: Lieschen Leimbacher.

Lieschen war Mutters Näherin. Stopfte Strümpfe. Und kürzte Hosen.

An grossen Waschtagen war sie ebenfalls im Haus. Lieschen half beim Herauswuchten der nassschweren Leintücher aus dem riesigen Kochtopf. Und immer wieder hörte ich Mutter dann am Mittagessen zu Vater flüstern: «Sie frisst wie zwei Elefanten - aber sie hat die Kraft von vier Nilpferden!»

Als ich mit 17 von zu Hause wegging (Love-Drama Nummer eins), hörte ich nichts mehr von Lieschen. Um ehrlich zu sein: Ich dachte auch nicht mehr an sie, obwohl sie aus Reststoffen für meinen Teddybären Brummbrumm flotte Kleidchen geschneidert hatte.

«VIELLEICHT HAT SIE EINEN MILLIONÄR GEHEIRATET?», holt mich Innocent aus meinen Träumen zum Zaster zurück. «Wir könnten das Geld jetzt echt gut gebrauchen. Ich wollte schon lange den hinteren Keller in eine Heimwerkstatt umbauen!»

«ES IST MEIN BRIEF. ES IST MEIN ERBE», erkläre ich eisig. «Zuerst gibt es ein 33-Meter-Wasserbett!»

«Bei solchen Massen musst du die Leintücher für teures Geld extra schneidern lassen», jammerte der Rappenspalter.

Antwort: «Ich habs dann ja...»

Und Sendepause.

NATÜRLICH TRÄUMT JEDER VON UNS DAVON, ER WÜRDE IRGENDWO IRGENDETWAS ERBEN. Solche Träume machen dir den Tag. Mir hat den Tag nun Lieschen gemacht.

Von zu Hause bis zur Anwaltspraxis schwebte ich in Wolken: Aus ists mit den roten Kontozahlen! Aus mit den Vorschüssen auf nie geschriebene Bücher. Und endlich ein Elektroauto, damit Greta Ruhe gibt!

Im Notariat Schneider ist alles cool kahl. Ich meine: Platten und Röhren von berühmten Designern machen das Interieur zu einer Art Weltraumschiff. Und mitten im Weltraum hockt Notar Schneider in einem Egg-Chair von Arne Jacobsen und hievt sich mühsam hoch: «So eine Freude, Sie kennen zu lernen, mein Lieber...»

Ich kippe mich in einen Panton-Stuhl - und Notar Schneider zaubert ein Päckchen sowie einen Brief hervor: «Bitte - das ist es. Sie müssten dann hier noch unterschreiben!»

Zuerst öffne ich das Päckchen. Drin stecken ein rosiges Samtjäckchen, ein weisses Miniatur-Hemdchen und ein lila Schlips, kaum so gross wie mein Zehennagel.

ICH BIN VERWIRRT. UND NOTAR SCHNEIDER AUCH. SOLCHE OBJEKTE PASSEN NICHT IN EIN BÜRO, DAS SCHWEDISCHE KÜNSTLERHÄNDE GESTYLT HABEN.

Dann zupfe ich den Brief auf. Es fällt kein Check heraus. Aber ein 20-Centime-Stück. Und eine Karte: «Mein lieber Bub, Du bist jetzt bestimmt schon in einem Alter, in dem Du nicht mehr mit Brummbrumm spielst. Erinnerst Du Dich noch an ihn? Ich habe ihm auf Deine Bitte hin diesen Kittel geschneidert - Hemd und Schlips dazu.

Du warst an jenem Tag ziemlich unartig - ich glaube, Du hast Deinem Vater den toten Hansi - deinen Aquariumfisch, weisst Du noch? - ins Bett gesteckt. Jedenfalls hat er Dir daraufhin zornig das Sackgeld von 20 Centime gestrichen. Und mich ins Gebet genommen, ich solle mit dieser unsinnigen Schneiderei für einen Teddybären endlich aufhören. SONDERN DIR EINEN BOXSACK NÄHEN!

Ach Kind, ich ahnte schon damals, dass Du es in Deinem Leben schwer haben würdest. Die Kleidchen von Brummbrumm habe ich aufbewahrt. Und die 20 Centime Sackgeld sind als symbolische Geste zu verstehen. Den Boxsack konnte sich Dein gütiger Vater an den Hut stecken.

Du warst ein wunderbarer, kleiner Bub - Dein Lieschen.»

Natürlich habe ich den teuren Cattelan-Tisch dann so nass geheult, dass die Notar-Sekretärin pikiert das Nussbaumholz wieder auf Hochglanz polierte.

DANN BIN ICH HEIM.

Innocent hüpfte bereits ungeduldig von einem Fuss auf den andern: «Wasissjetz?»

«Ich gebe dir 20 Centime Sackgeld für die Heimwerkstatt ab!», seufzte ich.

Und ging mit dem Päckchen in mein Zimmer: «Hallo Brummbrumm - du hast geerbt!»

Dienstag, 10. September 2019