Von Zahnschmerzen in Meran und dem Gebiss...

Illustration Rebekka Heeb

Der Zahn pocht.

Tausend Hämmerchen klopfen ans Zahnfleisch.

Es ist der Moment, wo du denkst: Wie schön hatte es die Kembserweg-Omi: RAFFEL RAUS. ZAHNGLAS. UND RUHE.

Als Kinder haben wir immer mal wieder mit ihrem Gebiss gespielt. Oder es zwischen den Begonientöpfchen versteckt. Die Omi schnalzte dann wütend mit der Zunge. Oben und unten der dünnen Lippen zeigten sich nadelfeine Fältchen. Das Mäulchen war ein gesunken, wie ein Soufflé, das in die Kälte kam.

«SSSSOFORT GIBSSSST DU MIR MEIN GEBISSSS... WIE SSSEHE ICH DENN AUSSSS?!», zischelte sie.

Sie sah aus wie ein liegen gelassener Apfel. Wir ergötzten uns am Bild, bis Mutter uns energisch die Leviten pfiff: «Ja gehts noch - wenn der Strassenwischer sie so entdeckt, kommt sie in den Kompost!»

ALSO GABEN WIR DIE ZÄHNE ZURÜCK, NICHT OHNE DIE RAFFEL VORHER SELBER NOCH EINGESCHOBEN ZU HABEN: «Schaut nur - ich bin Fernandel!»

Ja - ich weiss: Heute macht sich keiner mehr über solche Dinge in die Hosen. Der Witz der Zeit hat einen anderen Biss. Aber damals haben wir uns über so etwas krumm gekugelt...

Mein Vater, der geile Hans, hielt sich zu jener Zeit eine Freundin, die eine Zahnarztpraxis betrieb. Ich durfte sie mitunter besuchen. Und «Tante Bethli» nennen.

Es war diese Tante Bethli, die mir eintrichterte, dass Zähne das höchste Gut des kultivierten Menschen und jede Zuckererdbeere deshalb verboten sei. Kapiert wohl jeder, dass ich die Tante eine sauertöpfische Schnepfe fand. Und mir schon aus Opposition Tonnen von diesen Zuckerknallern reinstemmte.

Heute sind Zuckererdbeeren aus dieser Welt gestrichen. Zucker nagt am Zahn der Zeit. Aber in den 50er-Jahren waren sie für kleine, rosige Buben die einzige Möglichkeit, sich damit die Lippen zu schminken.

HABEN WIR EINANDER VERSTANDEN?

Im Übrigen baumelte an jedem Stiel dieser Zuckererdbeeren ein gläserner Smaragd der 25-Karat-Klasse. Da die Zuckererdbeere damals kaum zehn Rappen kostete, kann man sich vorstellen: An meinen Händen funkelte es wie auf einem britischen Krönungs-Diadem. Jedem steckte ich die beringten Finger zu, um die Klunker küssen zu lassen.

«Hör auf mit dem Scheiss», knurrte der geile Hans. Und seine Sex-Tante wedelte mir drohend mit ihren Zahn-Kratzern entgegen: «Du bekommst so ein Popo-Mäulchen wie die Omi...»

Na gut. Jetzt hocke ich im Auto nach Meran. Und in mir hämmert es, dass Gott erbarm.

Unten ist der Fuss geschwollen. Oben die Backe. Und wie uns die Damen vom Meranerhof empfangen, schlagen sie das Kreuz: «Au mei das sieht ja aus, als würdens beim Horror-Film dHauptrollen spüüüln...»

«...die alte Diva macht ein riesiges Getue um ein bisschen Zahnweh!», muss sich Innocent gleich in den Vordergrund drängen. Er tut sich schwer, seit ich an einem Stock gehe. Wie viele alte Leute will er alleine im Mittelpunkt stehen. Und das Mitleid nicht mit Spielverderbern teilen müssen...

NUN IST MERAN BERÜHMT FÜR SEINE ZAHNÄRZTE.

Immerhin hat sich Sissi hier ihr Gebiss richten lassen. Zähne raus. Raffel rein. Wie bei der Kembserweg-Omi. Nur dass es keiner wagte, ihr die Prothese zwischen den Blumentöpfen zu verstecken. Denn die Kaiserin soll eine recht gallige Kratzbürste gewesen sein. Von wegen: «Papilein... du Schatzilein» alla Romy Schneider in «Sissi» 1 und «Sissi» 2. Wenn man hier in die Stadtbibliothek geht und die Unterlagen zu den Meran-Besuchen der lieben Sissi in Meran durchackert, muss man doch tatsächlich lesen, dass diese hochmütige Zicke das gemeine Volk nicht gegrüsst hat und die Rechnung für ihre Ziegenmilch noch heute offensteht.

Das Schlimmste aber: Die Sissi hat laut Unterlagen nie gelacht. Sie war ein sturer Brocken - eine Spassbremse, wie der Wurm im Salat. Das Trübe hatte allerdings weniger mit ihrem depressiven Gemüt als viel mehr mit ihrer Zahnstellung zu tun: Sissi galt zu jener Zeit wohl als die schönste Frau zwischen Donau-Ost und Ungarn-Nord. Sie selbst sah sich auch so. Deshalb trieb sie Frühsport. Ass nur Veilchen sorbets. Und liess Eier auf die langen Haare fliessen.

Nach 18.00 Uhr war totale Null-Kalorien-Kur bis zum Frühstücksei ohne Dotter. SO MACHTE DIE ÖFFENTLICHKEIT EINE GEHEIMNISVOLLE BEAUTÉ AUS IHR.

Heute müsste man jedoch von einer Fake News sprechen: Denn Sissi war nur schön, wenn sie den Mund nicht auftat. Tat sie es doch, um mit ihrer Schwiegermutter zu keifen, sah die Welt: Die kaiserlichen Zähne sind schiefer als der Turm von Pisa. Einige wackelten gefährlich. Drei fehlten schon. Und so hat sich Sissi also in die Hände und auf den Stuhl des legendären Meraner Zahnarztes gegeben, um sich restaurieren lassen.

Die ganze dentale Renovation - und das kann man im Staatsarchiv ebenfalls nachlesen - kostete so viel wie 25 Pferdekutschen. DA SIND JA DIE LIPPEN VON DONATELLA VERSACE FAST SCHON EIN SCHNÄPPCHEN! Allerdings: Die Rechnung muss der Kaiserin richtig aufs Gemüt geschlagen haben - denn auch mit den neuen Zähnen lächelte sie nicht.

«Se hooms oss Buab zu viel Zukererdbeeren gelutscht...», sagt nun die Grande Dame vom Meraner-Hof. «Ober für en faulen Zahn brauchts net zem Zahnarzt zu weibeln...»

EINE HALBE STUNDE SPÄTER TAUCHT SIE MIT EINEM TÜLLSÄCKCHEN VOLLER KRÄUTERN AUF. ES STINKT GRÄSSLICH NACH GEWÜRZNELKEN.

Ich mag Gewürznelken nicht.

«Da musst du durch!», reibt sich Innocent freudig die Hände. Und verlangt noch eisgekühlten Quark für meinen geschwollenen Fuss.

Am andern Tag sind die Zahnschmerzen tatsächlich weg. Und der Fuss fast schon reif für die 35 Fouettés des schwarzen Schwans.

Das schönste aber: In diesem nostalgischen Meran bekommst du auch noch Zuckererdbeeren.

Na dann. Schlimmstenfalls habe ich noch immer die geerbte Raffel der Kembserweg-Omi im Tresor!

Dienstag, 24. September 2019