Vom Wunsch, Silvester zu verschlafen, und vom Kaffeesatzlesen...

Illustration: Rebekka Heeb

Nein. Silvester konnte es mir nie.

Hatte immer diesen sanft melancholischen Rappel.

UND WÄRE AM LIEBSTEN AB IN DIE HEIA!

Geht natürlich nicht. Alle hängen herum. Und warten auf den magischen Moment des Countdowns: Der Zeiger springt auf Mitternacht. Die ersten Raketen sind schon explodiert. Und auf dem Fernsehbildschirm herrscht diese ausgelassene Fröhlichkeit, wie auf der Titanic am Abend bevor sie unterging.

ICH HABE DIESE HURRA- HURRA-STIMMUNG AN SILVESTER NIE KAPIERT. DAS BETT LAG MIR NÄHER. WAS IST SO LUSTIG DARAN, DASS EIN ALTES JAHR STIRBT - UND EIN NEUES GESPICKT MIT FRAGEZEICHEN AM SCHWARZEN HIMMEL LAUERT...?

Am besten wir schlafen mal darüber!

Schon als Kind, wenn die Bude sowie alle Gläser voll waren und jeder dem andern leicht angedüdelt in die Arme sank, konnte ich diese Fröhlichkeit nicht nachvollziehen. Die Kembserweg-Omi übrigens auch nicht. Sie tropfte bereits eine halbe Stunde vor Jahreswechsel wie ein lecker Gartenschlauch und schniefte in ihr Taschentuch: «...dass dies mein armer Julius nicht mehr erleben darf!»

DER JULIUS HATTE SICH SCHON VOR 20 JAHREN INS JENSEITS GESOFFEN. BÖSE ZUNGEN BEHAUPTETEN, ER HABE AUF DIESE ART DAS LAUTE GEZETER DER OMI IM RAUSCH QUITTIERT UND AM ANDEREN ENDE DES REGENBOGENS ENDLICH DAS STILLE PARADIES GEFUNDEN.

Aber hier: «Der arme Julius wo er die Münsterglocken so sehr geliebt hat!»

Meine Mutter rückte dann alles noch vor dem Zwölfuhrschlag ins richtige Licht: «Hör auf mit dem Theater, Anni - dein Julius hat die Münsterglocken nie gehört! Der war doch schon nach den Achtuhr-Nachrichten sausackvoll. Das Einzige, was deinem Alten wirklich einfuhr, war Enzian pur...»

Ich stand von allen vergessen und unbeachtet abseits am Fenster. Ein einsames Kind der Silvesternacht. HIN UND WIEDER STREICHELTE MIR JEMAND ABWESEND ÜBER DIE SIMPELFRANSEN: «Na... na... Bubi... darfst du schon wie die Grossen Champagner trinken?!»

HIMMEL GINGEN MIR DIESE DUMPFBACKEN AUF DEN KIEKER...

Es war kein Champagner - sondern alk-freies Rimuss. Für den Kleinen wurde auf den festlichen Abend hin eigens eine Flasche vom kindlichen Gemütsmost lockergemacht.

Immerhin - ich spreizte den kleinen Finger am Kelch, wie ich es von Greta Garbo in «Die Kameliendame» abgekupfert hatte. Nur bei den Spargel brötchen verliess mich das Vornehme - ich hooverte sie im Frust der Einsamkeit sekundenschnell rein, sodass meine festliche Krawatte, die mir an einem viel zu engen Gummiband die Gurgel abschnürte, voller Mayonnaise glänzte. ES WAR DAS EINZIG GLÄNZENDE AN DIESEM SCHÖNEN KIND.

Silvester spulte in unserm Elternhaus jahrzehntelang auf derselben Welle ab: Am Mittag wurde Formenbrote gebuttert. Dann mit gerädelten Eiern, Büchsenspargeln, gekochtem Schinken oder Selleriesalat belegt. Über alles drückten wir Mayo aus der Tube. Abends sah diese so glasig aus wie Tante Nelly nach dem sechsten Likörchen. Also wurde das Abgefuckte mit ein paar Flocken Petersilie aufgelockert.

Manchmal, wenn ich allein in der Küche war, setzte ich die Mayotube an, wie ich schon als kleiner Bub die Kondensmilchtube ausgesaugt hatte. Mayo kam bei mir gleich nach Frigor-Schokolade und «Sandmännchen» vor dem Schlafengehen.

Auf die Selleriebrötchen durfte ich jeweils eine Dosenkirsche legen. Die Kirsche hinterliess auf der weissen Masse rötliche Spuren - wie Mutters Lippenstift auf ihren Schneidezähnen. Später wurden die falschen Perser eingerollt. Und die Tanzplatten ausgesucht. AUF KLEINEN TISCHCHEN LAGEN KARTENSPIELE BEREIT.

Elsie, die etwas schrullige Base der Kembserweg-Omi, installierte sich in der Küche am Herd. Sie kochte Kaffeepulver auf. Denn nach zehn Uhr abends, wenn das Dessert (eine Kristallschüssel voll mit dem, was Mutter als «Götterspeise» servierte, aber nichts anderes als Wackelpudding aus dem Beutel war), nach der Süss speise also schüttete Elsie ihre dunkle Brühe in winzige Mokka tässchen.

Ihre Ratsucher tranken das Gesöff artig aus. Dann kippte die Wahrsagerin die Tasse mit einem Ruck aufs Tellerchen. Der Kaffeesatz zeigte kuriose Muster. Und Elsie las darin die Zukunft fürs neue Jahr - auf jeden Einzelnen zugeschnitten. Das war nicht etwa dieses Allround-Geplapper wie auf den Horoskopseiten der bunten Knallblätter... NEIN. ELSIE WAR EINE WAHRSAGERIN NACH MASS.

Natürlich lachten dann alle übermütig über die Prophezeiungen von viel Geld und einem reichen, schönen Mann - aber die alte Frau mit dem grauen Zopf schüttelte unwillig den Kopf und zischelte: «Wenn ich denen erzählen würde, was sie wirklich erwartet, wäre der Abend zur Sau...»

Einmal hat Elsie auch mir die Mokkatasse gekippt. Sie schaute stirnrunzelnd auf die dunklen Spuren am weissen Porzellan. Dann drückte sie mich an sich: «Ach Bub - das alles willst du gar nicht wissen. Sicher ist: Es wird kein Honigschlecken...» UND DANN SEHR STRENG: «LASS KÜNFTIG DIE MAYONNAISE WEG!»

An alle diese Momente muss ich heute an Silvester denken, wenn die Zeiger dieser Welt auf den Zwölfuhrstrich tanzen. Und die Moderatoren auf den verschiedenen Kanälen in ihrer explosiven Frohstimmung 5... 4... 3... 2... brüllen.

Innocent steht mit zwei Gläsern bereit: «Ist es so weit?» Ich nicke: «Ja - auf ein gutes neues Jahr!»

Dann drücken wir einander.

UND DAFÜR MUSS ICH WEISS GOTT NICHT BIS UM MITTERNACHT WACH BLEIBEN!

Dienstag, 31. Dezember 2019