Vom ersten Morgestraich und von Eltern, die es nicht draufhatten...

Illustration: Rebekka Heeb

Mein erster Morgestraich verbrachte ich auf dem Rücken meines Vaters.

Ich war vier. Wir standen in der Aeschenvorstadt. Ernst, der Billeteur meines Vaters, war Pfeifer bei der Lälli. Und die marschierte beim Goldenen Sternen ab.

ERNST WAR DER EINZIGE AKTIVE PFEIFER, DEN VATER KANNTE. BEIM THEMA FASNACHT WAR DER SECHSER-TRÄMLER NÄMLICH STUR WIE DIE SCHIENEN, AUF DENEN ER FUHR: «Männer in Frauenfummeln? Ja, wo gibts denn so etwas?! SICHER NICHT BEI UNS!»

Wie so oft im Leben hatte sich der Vater getäuscht.

Aber immerhin: «Einmal muss der Bub ja einen Morgestraich miterleben - was denkst du, Lotti?»

CARLOTTA ZEIGTE IHM DEN STINKEFINGER, WAS ZU JENER ZEIT EINFACH NUR EIN TIPPEN AN DIE STIRN BEDEUTETE: «NICHT MIT M I R! Das ist reine Männer sache. Frauen haben an der Fasnacht eh nichts verloren...»

So aufgeschlossen Carlotta auch war: Punkto Fasnacht ritt sie auf derselben Welle wie ihr Alter: «So etwas kommt in unserer Familie gar nicht infrage...»

Irgendwie hatten da alle eine Fasnachtsphobie. KEINER HATTE ES DRAUF!

Die Omama offenbarte mir dann viele Jahrzehnte später nach einer zweiten Flasche ihres klebrigen Asti Spumante ihr Fasnachts-Leid-Lied:

«...ein einziges Mal konnte ich den Morgestraich miterleben. Das war bei meinem Onkel Gernot. Er hatte sein Haus in der Gerbergasse. Und ich durfte auf den grossen Moment hin bei ihm übernachten.

15 Minuten vor dem Vier-Uhr-Schlag standen wir bei Kerzenlicht in seiner Stube. Gernot hatte das ganze Haus ver rammelt - alle Läden waren geschlossen: DA DRAUSSEN TOBT SICH JETZT DER MOB AUS - DAMIT WOLLEN WIR NICHTS ZU TUN HABEN, LUGGI!

Als die Stadt erbebte und alle Lichter ausgingen, erspähten wir durch die Läden-Lamellen die gespenstischen Lichter der Laternen. Vermummte Gestalten zogen vorbei - wilde Derwisch-Züge. Mein Herz klopfte heftig - ich musste mich wieder hinlegen. Aber ich konnte keine Sekunde schlafen. Mir war als kleines Mädchen schon klar: Einmal will ich das alles zusammen mit dem Mob auf der Strasse miterleben. Und nicht hinter verschlossenen Fensterläden.»

Sie seufzte dann: «Es kam aber nie dazu... und ich buche es heute unter verpasste Gelegenheiten ab...»

ICH ALSO AUF DER SCHULTER VON VATER.

Natürlich war das Kind aufgeregt. Ich hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan. Der schöne Bubenkopf schimmerte gelblich wie eine Totenkerze.

Ich weiss noch, dass Vater seinem Trämler-Kollegen zuwinkte. Doch der beachtete uns gar nicht. Es war eine Minute vor vier. Und Ernst auf der Fahrt zum Fasnachtshimmel. Er stülpte die Larve runter. Und die Lichter gingen aus.

DAS GANZE ERDBEBEN HAT MICH DAMALS SO MITGENOMMEN, DASS ICH MEINEM VATER AUF DIE SCHULTER PINKELTE. UND IHM IN DEN NACKEN GEKOTZT HABE.

Dann heulte ich. Und wollte heim!

Mein Vater lamentierte unter der Dusche: «So ein Weichei - das wird ganz bestimmt kein Fasnächtler!»

Mutter: «Na, Gott sei Dank!»

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Das Virus überfiel mich mit sieben Jahren. Barbara, meine Freundin, hatte ein Piccolo. Die silbernen Kläppchen faszinierten mich - das war doch etwas ganz anderes als diese klobige Blockflöte, die zudem immer heiser war.

Ich versprach, ein Leben lang ein lieber Bub zu sein- also schickten sie den Knaben seufzend in die Piccolostunde.

Vier Jahre nach der Huckepack-Pinklerei stand ich wieder vor dem Goldenen Sternen. Es war ein Jahr bevor das wunderbare Gasthaus mit den schwimmenden Forellen im Sandstein- Becken abgerissen wurde.

Meine Mutter hatte mich tobend zur Stammbeiz gebracht - mein Vater war mit einer seiner Freundinnen zum Skifahren in die Berge gefahren. Die Freundinnen waren der Gattin egal - ABER DER KLEINE BUB, DER HIER IN EINEM GELIEHENEN NASHORNKOSTÜM IN DER ERSTEN REIHE STAND, ERSCHÜTTERTE IHRE WELT.

«Weiss der Teufel, woher er das hat...», hatte sie überall herumgejammert. Und: «Ich denke nicht daran, auch nur einen Rappen für diesen Horror aufzuwerfen!»

Deshalb: geliehenes Nashorn.

Die Larve war riesig. Das Bubenköpfchen schwamm darin herum wie der Zierfisch in einem Olympia-Schwimmbecken. Ich sah gar nichts. Für mich war schon Nacht, bevor die Lichter ausgingen.

ABER ICH WAR SO ETWAS VON GLÜCKLICH.

Und wenn ich mit meinem Herumtorkeln auch der ganzen Clique auf die Eier ging und immer wieder von der zweiten Reihe genervt ins richtige Glied geschubst werden musste - es war der Himmel auf Erden.

ERST SPÄTER HABE ICH HERAUSGEFUNDEN, DASS SICH DIESER HIMMEL ZUM FASNACHTS-PARADIES AUF DEN SCHLAG PRÄZISE ÖFFNET. UND DICH NACH 4320 MINUTEN WIEDER MIT EINEM GRÄSSLICHEN KATER AUF DIE ERDE ZURÜCKWIRFT.

Heute - gut 60 Jahre später - bin ich ein Morgestraich- Voyeur. Ich habe gemerkt, dass ein aktiver Zuschauer den bessern Blickwinkel hat. Man ist nicht in einem cachierten Kopf gefangen - die Sicht geht weit über die eigene Clique hinaus.

MANCHMAL SCHLENDERE ICH BEREITS 90 MINUTEN VOR DEM GROSSEN MOMENT DURCH DIE STADT - ICH HÖRE DAS BIMMELN DER MORGESTRAICH-UELI, ALS WÜRDEN SIE EINEN INS CHRISTBAUMZIMMER RUFEN. UND ICH SCHAUE FASZINIERT ZU, WIE DIE LATERNEN-CHEFS IM INNERN DER LAMPEN DEN LICHTERBAUM ANZÜNDEN. ES IST MEIN UREIGENER FAS-WEIHNACHT-MOMENT.

Manchmal blinzle ich zum Himmel, der sich bald allen hier unten öffnen wird. Ich schicke Grüsse an meine Lieben, die dort oben bereits auf die Pauke hauen und mit den Sternen jubilieren.

Natürlich salutiere ich auch diejenigen, die - was ich stark vermute - irgendwo auf einer dunklen Wolke herumschmollen: «WOHER ER D A S NUR HAT...?»

Dienstag, 18. Februar 2020