Von einer türkischen Kostümschneiderin und den «Spatzehirni»

Illustration: Rebekka Heeb

Azra nahm einen Schluck vom dampfenden Tee. Sie hatte ihn mit drei Löffeln Honig gesüsst.

Dann schaute sie zum Foto auf dem Buffet: ihre Eltern. Fein gerahmt. Schmal. Aber Silber. Davor: eine getrocknete Rose. Und eine flackernde Kerze.

«Ich darf nicht krank werden, Ana - die Kleider müssen fertig sein. Es ist ihr grösstes Fest!»

DIE MUTTER LÄCHELTE VERSTÄNDNISVOLL. SO WIE SIE IMMER VERSTÄNDNISVOLL GELÄCHELT HATTE. DER VATER SCHAUTE GRIMMIG - ALS MACHTE IHM WIEDER DIE MILZ ZU SCHAFFEN.

Vor fünf Jahren waren beide hintereinander - dies innerhalb von zwei Monaten - gestorben. Sie wollten in Bursa begraben werden. Azra war mit ihren beiden Brüdern jetzt alleine in diesem Land, das ihnen nicht mehr so kalt und grau vorkam wie damals, als sie mit ihren Eltern in die Stadt am Rhein gezogen waren.

Die Kinder hatten sich bald eingelebt - dank Schule, Fussballclub, Musikverein (Azra spielte Querflöte).

Die Eltern jedoch hatten sich bis zum letzten Atemzug fremd gefühlt. Sie hatten die Sprache nie gelernt - und kaum mit jemandem gesprochen. Ihre Heimat war die enge Dreizimmerwohnung beim Tellplatz gewesen - eine kleine, türkische Insel im Beton.

Azra schwitzte jetzt stark. Sie hatte Fieber. Vor drei Tagen hatte es sie erwischt: Schüttelfrost, tränende Augen, Erbrechen.

«Du bist überarbeitet!» - hatte Talip, ihr älterer Bruder, brummend festgestellt.

Trotzdem hatte sie weiter an den Kostümen für «d’ Spatzehirni» genäht. Es war ihre erste Clique.

Jenny war eines Tages einfach im «Änderungs-Atelier» gestanden. Azra kürzte damals Hosen, liess Röcke aus - versetzte Knöpfe.

Jenny nun: «Tschau - nähst du auch Fasnachtskostüme? Ich meine: für eine ganze Clique - wir sind 80 Nasen.»

Azra hatte abgewinkt: «Das habe ich noch nie UND SO VIELE!»

BEI EINEM TEE HATTE JENNY ERZÄHLT, DASS DIE SCHNEIDERIN DIE CLIQUE IM LETZTEN MOMENT IM STICH GELASSEN HABE: «Es gab Streit - das Kostüm sei zu kompliziert. Wir sind nämlich alles rosige Bachelor-Ladys... Du weisst schon, die TV-Sendung. Und natürlich ist es ein bisschen aufwendig, bezahlen können wir auch nicht viel...»

«Ich versuch es», hatte Azra gelächelt, «der Fasnacht zuliebe. Und weil ich dieser Stadt etwas schulde...»

Am nächsten Abend liessen sich d’ Spatzehirni in Azras Atelier Mass nehmen. Sie schleppten Stoffballen an. Und die Hauswartin, die stets mies gelaunte Olga Huber, bellte prompt: «Wir haben Wohnung und Atelier an ein stilles Gewerbe vermietet - nicht an einen Bahnhof!»

«Ich sollte für eine Clique...»

«SIE FLÖTEN SCHON IMMER AUF IHREM INSTRUMENT HERUM. UND ABENDS NACH SIEBEN UHR WILL ICH WEDER NÄHMASCHINEN NOCH QUERFLÖTEN HÖREN - GUTEN ABEND, FRAU KÜRSID!»

Azra gab alles. Sie schuftete von morgens um sieben Uhr bis tief in die Nacht. Immer wieder tauchte die alte Huber auf: «Ja gehts noch - wie soll man da in Ruhe Myny Schwyz, Dyny Schwyz rein ziehen, wenn ständig diese türkische Nähmaschine holpert. Nach 19 UHR IST SCHLUSS, habe ich gesagt...»

Azra hatte Tränen: «So werde ich nicht fertig und die Clique zählt auf mich...»

«NICHT MEIN PROBLEM!» - Olga Huber schlug die Tür zu. Und Azra stichelte die rosigen Ärmel der Bachelorinnen also von Hand - Haute Couture. Die Augen brannten. Die Finger schwitzten.

«DU GEHÖRST SOFORT INS BETT», hatte Talip getobt. Aber natürlich hatte sie weitergenäht. Übermorgen wollten alle ihre Kostüme abholen - es fehlten noch drei Pfeifer und der Tambourmajor.

Azra schaute zum Foto der Eltern: «Ich schaffe es nicht, Ana...», flüsterte sie.

Wieder lächelte die Mutter. Wieder schaute der Vater grimmig. Da wurde es plötzlich hell im Zimmer. Die Mutter stand neben Azra. Fühlte ihre Stirne. Und tupfte den Schweiss mit einem Tuch ab.

«Alles wird gut...», hörte sie Ana flüstern. Dann vernahm sie von weit her das Rattern ihrer Nähmaschine...

Die Sonne schien Azra aufs Gesicht. Als die junge Frau die Augen öffnete, ratterte die Nähmaschine noch immer.

Azra jagte aus dem Schlafzimmer in ihr Atelier - die alte Huber hatte Fäden im Mund und nuschelte: «Na - jetzt sehen Sie aber schon viel besser aus, Frau Kürsid... GESTERN HABEN SIE MIR RICHTIG SORGEN GEMACHT. SIE WAREN ÜBER DEN KOSTÜMSTOFFEN ZUSAMMEN GEBROCHEN. Ich hatte schon lange keine Nähmaschine mehr gehört, da wollte ich mal zum Rechten schauen... wo haben Sie übrigens den rosa Faden?»

Azra stierte die Hauswartin an. Dann stammelte sie: « dann haben Sie mich ins Bett gebracht? Und das ewige Rattern der Nähmaschine waren auch Sie? Und...»

«Klar». Sie zupfte die Steck nadeln aus dem Mund. «Ich konnte Sie ja nicht schwimmen lassen - man ist schliesslich kein Unmensch. Ich arbeitete 30 Jahre in der Theaterschneiderei... ihre Steppstiche, liebe Azra, sind übrigens erster Güte... Sie sollten ein Couture-Atelier aufmachen!»

Die alte Huber hielt eine Bluse hoch: «Das ist der Anfang zum Tambourmajor. Wenn wir heute zusammenarbeiten, werden wir bis morgen gut fertig... ich bin übrigens die Olga!»

«Der rosa Faden ist auf dem Stuhl...», flüsterte Azra, «Sie... äh du... sitzt drauf, Olga!»

Als d’Spatzehirni am anderen Tag ihre Kostüme abholten, wurden sie von der alten Huber mit Weisswein, Tee und hausgemachten Faschtewähe empfangen. «Das ist Olga...», stellte die junge Türkin ihre neue Freundin vor. «Sie wird mir nächstes Jahr helfen - wenn ihr wiederkommen wollt...»

JENNY UMARMTE BEIDE FRAUEN: «Und ob wir wieder kommen - ihr habt uns die Fasnacht gerettet...»

Dann schaute sie etwas unsicher zu Azra: «Ich habe gesehen, dass du Querflöte spielst... du hättest nicht etwa Lust, auf ein Piccolo umzusteigen und bei uns...?»

«UMHIMMELSWILLEN!», lachte die alte Huber «Das hätte gerade noch gefehlt und wenn, dann ist ab 19 Uhr Nachtruhe!»

Sie grinste jetzt: «Na ja - sagen wir ab 22 Uhr... und Piccolo-Verbot bei .»

Dienstag, 25. Februar 2020