Von den Intellektuellen und denen, die es nicht sind

Illustration: Rebekka Heeb

Wenn man über zwei Monate aufeinanderhockt (und ihr wisst, wie ich das hier meine) - wenn man also konstant die Frühstücksflocken und den Fernseher teilt, dann schlafen mit der Zeit die Gespräche ein. Es herrscht Stummfilm. Oder die Sätze werden bizarr.

Innocent: «ALSO INTELLEKTUELL WARST DU JA NIE.»

Das kam aus heiterem Himmel. Ist aber nicht unbedingt ein Novum. Trotzdem: Ich schweige gekränkt. Und werfe den Dreck zurück: «NEIN. WAR ICH NIE - aber doch immer etwas gescheiter als gewisse Intellektuelle.»

Bei «gewisse» dehne ich das Wort. Und lasse offen, welcher Armleuchter mit «gewisse» gemeint ist. Jetzt schweigt Innocent. Schaut einer Kuh zu, die das Gras vier Hand breit vor unserem Gartentisch aus der Weide zupft. Und die Glockenblümchen verächtlich auslässt.

«Du warst nie gescheit. Vielleicht schlau. Aber gescheit ganz bestimmt nicht.» JETZT MACHT ER EINE PAUSE. DANN SEUFZER: «Vor allem hattest du diesen Charme, der jede Dummheit barmherzig übertüncht - wie der erste Schnee den Staub des Sommers.»

Es ist dieser Moment, wo unsere Pfeffermühle über den Tisch fliegt. Innocent ist trotz seiner 85 noch recht munter im Reflex. Elegant weicht er der Mühle aus - und die liegt jetzt vor der Kuh. Die Schön äugige wirft uns einen vorwurfsvollen Blick zu. Und kaut dann seelenruhig weiter. Sie straft die Pfeffermühle mit derselben Verachtung wie die Glockenblümchen.

JETZTMALIMERNST: Natürlich ist das Virus nicht nur in den Nies-Tröpfchen. Es steckt in allem. Wir sind traurig. Wir sind überdreht. Vor allem aber sind wir gereizt. Deshalb fliegende Pfeffermühlen. Und: «Die holst du jetzt aber selber aus dem Kuhdreck!» Die Mühle hat sich tatsächlich wie eine gelandete Weltraumrakete in den dunklen Fladen gebohrt. «Und eines kann ich dir sagen: Mit dieser Mühle wird nicht mehr gepfeffert!»

Meine nicht intellektuelle, aber klare Folgerung: «Dann brauche ich sie ja auch nicht aus dem Mist zu zupfen! Wir lassen sie hier verrotten.»

ER:«DU LIEDERLICHE UMWELTSAU!»

ICH: «Das musst ausgerechnet du sagen, der für jedes Maggi-Fläschlein die Karre unter den Arsch schnallt.»

Schweigen. SCHWEIGEN. Schweigen.

DER LIEBE GOTT SCHAUT SOLCHEN SZENEN SCHMUNZELND ZU. DANN SAGT ER SICH: «ES IST GENUG!» UND LÄSST DAS TELEFON SCHELLEN.

«Ich nehms», jagt Innocent vom Stuhl auf.

«Blödsinn - du hörst eh nichts!», zische ich.

Wir humpeln beide im Eilschritt auf den Apparat los. Innocent hat längere Finger. Und gewinnt.

«Hallo... reden Sie deutlich und laut... was ist los!? WELCHE KLAGE?»

Ich reisse meinem Freund den Festnetz-Hörer aus den Klauen (nach zwölf Wochen Maniküre-Manko krallt er den Hörer wie ein Geier das Lämmchen). Dann vernehme ich eben noch: «Nicht Anklage... lieber Herr... UMFRAGE... wir machen hier eine Umfrage über...» Peng. Ich kappe das Gespräch.

«Du kannst doch nicht einfach aufhängen!», tobt Innocent jetzt. «Da wollte jemand von mir einen juristischen Rat wegen einer Anklage und...»

«TRÄUM WEITER!»

Da ich schon einmal stehe, räume ich auch den Frühstückstisch ab: «HÖR ENDLICH AUF, DIE ZAHNSTOCHER IM LEEREN JOGHURTBECHER ZU ENTSORGEN - NOCH NIE ETWAS VON ABFALL-TRENNUNG GEHÖRT!»

Seine Stimme hat nun diesen höhnischen Klang, der mich schon bei seiner lieben Mutter zum Mars fliegen liess. «Ach ja? - Und wer schippt die Zigarrenasche aufs Wurstpapier?»

Jetzt ist der Moment gekommen, wo wir uns trennen: Er geht ins Schlafzimmer und schaut im Sudoku-Heftchen hinten nach, was er einsetzen muss. Ich sitze auf dem Klo. Verbeuge mich nach Osten und murmle achtzig Mal «Oooohhhm... ohhhhm». Doch die innere Ruhe hat Pause. Sie ist so wenig in Sicht, wie ein Apéro vor dem Pantheon. Also gehe ich in die Stube. Sie ist eigentlich Sperrzone bis um 18 Uhr. Und nur für das gemeinsame Nachtessen mit Herrn Koch und dem Gesamtbundesrat vor der News-Schüssel reserviert. ABER ES GIBT NUR IN DER STUBE EINEN CD-PLAYER. Ich lege «Schwanensee» ein. Und beginne mit meinen Bauch-weg-Übungen: AB IN DIE HOCKE... AAAARME HOCH ÜBER DEM KOPF... AB IN DIE HOCKE... AAARME HOCH...»

Innocent kommt aus dem Schlafzimmer gerannt: «Raus! Hast Dus gespürt - ein Erdbeben?!» WAS MACHST DU ÜBERHAUPT IN DER SPERRZONE?!» Ich stelle Tschaikowski ab, noch bevor seine Schwäne zum See stolziert sind - und jetzt hat sich auch das Erdbeben verzogen! Dafür hat eine Hexe in mein Kreuz geschossen.

«Hol mir diese Heissmacher-Tube, die der Hund in der Werbung immer vergräbt», knurre ich zu Innocent. Der schaut sich kopfschüttelnd um: «Alle Bilder hängen schief kannst du nicht draussen turnen wie jeder normale Mensch auch! In deinem Alter sollte man eh still im Bett liegen und das Ruhen in der Gruft üben...»

Dingdong! «Ich gehe», sagen wir beide - glücklich für die kleinste Abwechslung im Tag. Doch Innocent schwenkt bereits triumphierend unsere Pfeffermühle: «Das war der Pieren Bärt - er hat gesagt, man dürfe nichts in die Weide werfen. Die Kühe könnten daran verrecken.»

WIR SCHWEIGEN.

Eine Fliege surrt an. Sie äugt höchst interessiert zu den Kuhfladen-Stellen an der Pfeffermühle.

«Weisst du, weshalb alle Fliegen vom Scheissdreck fasziniert sind?», frage ich. «Fliegen sind eben nicht intellektuell», sagt er.

UNSER LEBEN IST VOLL MIT FRAGEN. UND KEIN INTELLEKTUELLER KANN SIE BEANTWORTEN. Und wenn wir schon dabei sind: Weshalb mögen Kühe eigentlich keine Glockenblümchen?

Dienstag, 12. Mai 2020