Von einstigen Telefonistinnen und heutigen Influencerinnen

Illustration: Rebekka Heeb

Eva rief an. Eva ruft immer an. Sie war Telefonistin. Ein langes Leben lang. Doch seit sie pensioniert ist, hängt sie nur noch am Telefon. Jetzt privat! Also ich hätte mir meine Pensionierung da anders vorgestellt - weg von jedem Telefonhörer. Rentenjahre auf einer einsamen Insel ohne Empfang. Aber nein - heute ist sie telefonisch aktiv: «Hallöchen - wollte nur mal wissen, wie es dir so geht!»

NETT GEMEINT. ABER UNNÖTIG. MIR GEHTS IMMER MIES. SONST WILL JEDER SOFORT ETWAS.

Eva ist also gebügelt durchs Leben gegangen. Gebügelt heisst: Sie trug einen Bügel über der stets hochtoupierten und stark angelackten Chignon- Frisur. Am Bügel schwebte ein schwarzes Mikrofon vor dem Mund. Von dort ging ihr «Firma Bitterli - guten Tag» in die Welt hinaus. 2000-mal pro Woche. Immer freundlich. Immer gelassen. Nie schwangen Emotionen mit. Keine Menstruations launen. Keine privaten Jammermomente. Auch damals nicht, als sie ihren Ehemann mit der besten Freundin im Schlaf zimmer überrascht hatte. SIE HÄTTE DANACH BRÜLLEN, HEULEN, MORDEN WOLLEN. Aber nein - «Firma Bitterli - guten Tag». Wen interessierte schon, wer bei Eva im Schlafzimmer lag.

«DIE TELEFONISTIN IST DIE VISITENKARTE DES HAUSES!» - hatte Bitterli junior an ihrem 25-Jahr-Firmenjubiläum gesagt. Und ihr ein Couvert - mit 100 Franken! - sowie einen Strauss mit Asparagus und Nelken in die Hand gedrückt.

Eva stöpselte die eingehenden Gespräche an einem Kasten in verschiedene Löcher. Immer mit dem freundlichen «Moment bitte», UND AB INS LOCH! Einige Millionen Mal in ihrem Leben.

Das muss sich einer mal vorstellen: EINE MILLION MAL «MOMENT BITTE!» Da gab es noch keine Tralala- Musik und elektronische Entschuldigungen im 10-Minuten-Takt («Sie warten immer noch? Haben Sie Geduld - Ihr Berater wird sich melden, sobald er seinen Espresso ausgetrunken hat...»).

Bei Eva hiess es aber nur: «Moment bitte!» Und dann nach drei Minuten (immer noch stoisch freundlich): «Tut mir leid - es meldet sich niemand!» Nie hätte sie gesagt: «Dieser Trottel bumst im Archiv wieder mal die Chefbuchhalterin.» Oder: «Die Huber macht heute schon seit neun Uhr auf Migräne.» Nein.

Meine liebe Freundin Eva - vom Leben gestählt und mit der inneren Ruhe einer Leichenhalle - tönt nun über den Handylautsprecher plötzlich unausgeglichen hysterisch: «Kannst du mir zum Teufel einmal erklären, was eine Influencerin ist?» Bitte was? «INFLUENCERIN! - ich habe meine Enkelin Maria angerufen und sie gefragt, was sie werden möchte. Da sagte sie: Influencerin! Das tönt doch, als wolle sie auf den Strich gehen.» - «Nun ja... Im gewissen Sinne. Also - ähh...» «BITTE WAS?»

Soll ich mir die Blösse geben und dieser sonst so erfahrenen Frau gestehen, dass auch ich mir nicht ganz im Klaren bin, was man heute unter dem Wort «Influencer» alles verstehen kann? Oder verstehen muss? Natürlich taucht das Wort überall auf - es ist eine Zeitseuche wie die Zecken im Wald oder der vergessene Akkusativ. Meine Cousine Martha hat mir kürzlich stolz erklärt, ihre Nichte Sophie sei eine grossartige Influencerin. Da ich jene Sophie kenne und sie geistig nicht ins Regal der kulturellen Leuchten ablegen kann, dachte ich, es sei eine Links-aussen-Position im Frauenfussball. Aber Martha seufzte nur: «Sie verdient noch nichts, aber sie hat schon 234 Follower! Hast du ihren Blog besucht?»

BAHNHOF. BAHNHOF. BAHNHOF!

Innocent, der sich ja in seinen schlaflosen Nächten alles von der Scheibe reinzieht und somit als allgemein gebildet gilt, erklärt es mir so: «Eine Influencerin beginnt meistens mit einem Blog. Das ist so etwas wie ein Tagebuch. In Kurzform. Sie veröffentlicht das auf Youtube. Oder auf Insta gram. Und sucht Followers. Kommst du mit?» Nein! - Aber das interessiert ihn einen Dreck. «Wenn du ganz viele Bewunderer hast, gehst du zu einer Firma und sagst: Ich bin Influencerin. Wenn Sie wollen, erwähne ich Ihren Namen. Und alle werden begeistert von Ihnen und ihren Produkten sein.»

Ach ja? - Jetzt wird die Sache doch interessant. «Bibi ist das berühmteste Influencer-Girl in Deutschland. Es verdient sechs Millionen im Jahr.» WAAAAS? «Ja. Die Firmen investieren jetzt nicht mehr in Zschhhh-Zschhh-Werbespots, wenn sie die Grillwurst verkaufen wollen. Jede Wurst geht über die Influencerin.»

MEIN GOTT - DAS ARME MÄDCHEN!

Ich schaue mal eben kurz auf meinem Facebook nach: Was ist, wenn man 258 Followers hat? «Dann schicken sie dir Müsterchen. Bei einem Schokokonzern ist das ein Rippchen «Zartbitter», bei Chanel ein Lippenstift.» Na gut - so gebrieft kann ich hocherhobenen Hauptes Eva zurückrufen: «Du Dummi - Influencerin ist ein wunderbarer Job. Du bekommst gratis Schokolade und Lippenstift!»

Das mit der Wurst lasse ich aus.

Dienstag, 23. Juni 2020