Von Betteln, Bettlern und der miesen Show…

Illustration: Rebekka Heeb

Betteln ist das grosse Thema. Kenne ich. Seit Jahren werfe ich mich Herrn Innocent zu Füssen. Und habe mir vorher die Augen mit Zwiebelsaft eingerieben, dass ich losspritze wie der Rasensprenger in Nachbars Garten. Ich strecke meine gefalteten Hände himmelwärts und rufe dort alle Heiligen an. Dann schluchze ich: «Nur e i n e n Franken... ich weiss nicht, wie ich sonst mit deinem Haushaltungsgeld über die Runden komme?!»

Natürlich ist diese Show perfekt einstudiert. Nicht umsonst bin ich bei Herrn Cibollini selig im Laienseminar seines Dramatikkurses gesessen. Das Geld war gut angelegt - mit meiner Betteloper habe ich später Innocent vor das Standesamt gezerrt, Redaktoren eingelullt und so meine eigenen Kolumnen sowie drei Fernsehshows bekommen.

ABER NIE HÄTTE ICH DIESELBE MIESE SCHMIERE RAUSGELASSEN WIE DIESE HORDE VON ORGANISIERTEN UND UNORGANISIERTEN SCHNORRERN!

Wenn schon Schnorren, dann mit Sensibilität und einem Lächeln auf den Lippen. Kein Gejammer. Kein Augenaufschlag nach oben, wo eh nie jemand hilft. Und auch kein aggressives Zischen: «Hol dich der Teufel!» (Denn auch unten funktioniert nichts!)

Betteln ist Feinkunst. Mir stellt es doch schon ab, wenn jemand flehend die Hände faltet, in denen das neuste Handy mit 5G-Empfang steckt. ICH JEDENFALLS HABE VOR DEM KNIEFALL MEINE KLUNKER IMMER ABGENOMMEN!

Okay. «Zynische Sau» - werden die Gutmenschen sagen. Die anderen: «Wie kann er nur - macht die armen Bettler, die sich keine Zweitwohnung im Oberland leisten können, so zur Schnecke!»

Das mag auf die ersten Zeilen hin so scheinen - ABER HALLO. ICH BIN EXPERTE! Und weiss, wovon ich schreibe. Ich habe schon mit sechs Jahren auf der Mittleren Brücke die Passanten angehalten. Und Zehnräppler geschlaucht.

Kam so: Eigentlich war Rosie die Anstifterin. Sie schnippelte Löcher in unsere Socken. Drehte die Pullover im Blumenbeet des Vorgartens so, dass sie aussahen, als kämen wir eben aus der Wildnis. Sie malte mir mit Steinkohlen die fetten Backen mager - und der Clou: Mit dem Bratenmesser schlitzte sie unsere Schuhe zur Hälfte auf.

So sassen wir also vor dem Käppelijoch: «...der Vater steckt im Bau die Mutter putzt und versäuft das Geld im Schwalben nest...» Die Leute blieben entsetzt stehen. Das «Schwalbennest» galt damals als Szenetreff schwerer Alkis und leichter Mädchen. «Ihr armen Kinder! Könnt ihr denn nicht heim?» - «Wir haben keinen Schlüssel...», jammerte Rosie. Ich muss zugeben: Sie hatte das Drama tische noch drei Stufen besser drauf. Und: «...die Mammi macht nicht auf, wenn sie einen Freier bedient», weinte ich (das war meine starke Seite). - Zusammen im Chor: «WIR SIND ARME BETTELKINDER UND HABEN HUNGER!» Aber hallo - die Knete floss wie der Rhein bei Hochwasser.

Eine nette Frau, die sich bei Spillmann am Brückenpfeiler zwei Eclairs und drei Diplomats reingehoovert hatte, schüttelte den Kopf. «So eine Schande - bettelnde Kinder in unserer Stadt. Wo sind wir denn?!»

Dann öffnete sie demonstrativ ihre Krokodilledertasche und zog einen Fünfliber aus dem Portemonnaie. EIN FÜNFLIBER BEDEUTETE DAMALS 100 COLA FRÖSCHE! Aber natürlich musste ausgerechnet in jenem erhabenen Moment Drämmler Hammel mit seinem 6er-Schlitten über die Brücke donnern. Er hielt den Tramzug an. Spulte zum Käppelijoch - und donnerte uns zwei Ohrfeigen: «Seid ihr übergeschnappt - wo habt ihr diese Lotterkleider her?!»

Die Menschen gingen tobend auf den Tramführer los. Hielten seine Arme. Und wollten auch auf ihn einschlagen! «ICH BIN DER VATER», brüllte der Drämmler. «DER IST IM BAU!», keifte die Krokodillederne zurück, «und seine Frau treibt es hinter verschlossenen Türen!» - «WAS TUT SIE?» - keuchte der Vater.

«Sie blockieren den ganzen Verkehr mit Ihrem 6er- Schlitten », schrie ein herbeigeeilter Metzger und wedelte mit dem Fleischhammer, «...zischen Sie endlich ins Tram - oder in den Knast.»

DAS IST REVOLUTION - IHR GUTEN!

Wir haben die Stadt lahmgelegt und brauchten keine Umweltplakate dazu: ein paar Löcher im Strumpf und basta! Die Bettlerei hatte uns immerhin 8.55 eingebracht. Davon mussten wir 4 Franken als Schweige geld dem 6er-Drämmler abgeben. Ich glaube, wir wären heute unter «organisierte Bettelei» gelaufen.

Zu Hause hielt Mutter uns die Predigt: «...wenn Herr Schmidli bei uns läutet, was tut er da?» - «Er verkauft Streichhölzer», meldete sich Rosie vorlaut. «Eben. Er hat kein Geld. Aber als Hausierer verkauft er Streichhölzer und Stecknadeln, um sein Ehrgefühl zu wahren - ihr aber bettelt einfach drauflos.. ich schäme mich für euch. Und für eure miese Show!»

Manchmal ergeht es mir heute ähnlich wie meiner Mutter damals - wenn jemand mich für die Notschlafstelle oder auch einen Joint anschlaucht, gebe ich. Die Menschen sind in Not. Und fragen unauffällig um Hilfe. Wenn Bettler aber die miese Show abziehen - dann schäme ich mich für sie. Wie meine Mutter damals für uns.

Da muss mir jetzt auch kein selbst ernannter Gutmensch die Rote Karte zücken - besser ist, er zückt sein Portemonnaie und holt einen Fünfliber hervor, wenn jemand um Geld bittet, der es wirklich nötig hat!

Dienstag, 18. August 2020