Von geleimten Zähnen und dem Testament

Illustration: Rebekka Heeb

Innocent zeigt gerne Zähne. Ich meine: Er knurrt zuerst. Dann beisst er zu. Er ist im chinesischen Zeichen des Hundes geboren. So etwas prägt. Seine liebe Mutter war chinesisch eine Schlange. Die Brüder Grimm müssen beim Märchen von der Alten mit dem Lebkuchenhäuschen von ihr inspiriert worden sein. Oder klipp und klar gesagt: Jedes Mal, wenn die Gute an einem Putzkasten vorbeiging, klopften die Besen startbereit an die Tür.

Ich möchte mich jetzt nicht weiter zur Familiengeschichte der anderen Seite äussern. Ich bin im Zeichen der Sau geboren. Und die sind bekanntlich verschwiegen. BEVOR SIE NÄMLICH ALLE SAUEREIEN DIESER WELT HERUMGRUNZEN, HÄNGT MAN SIE INS KAMIN UND MACHT WÜRSTE AUS IHNEN. Die Sau ist auf diese Welt gekommen, um als Braten zu enden - man sollte mal über diese Schweinerei nachdenken!

Innocent also sitzt am Frühstückstisch. Er rührt sich seine Alltagspaste an: weiche Streichbutter, die mit Margarine durchzogen ist. Dann sechs Kleckse Cenovis drauf. Und jetzt wird das Ganze liebevoll zu einem Matsch verrührt. Bei Gästen, denen bei dieser Rührseligkeit übel wird, verteidigt Innocent seine Rührung: «Ja, schnallt ihr es denn nicht - das ist gesund. Ich ziehe mir das seit Ende des Zweiten Weltkriegs rein. Und jetzt schaut mal meine Muskeln!»

Niemand will die Muskeln sehen. Und Innocent beisst etwas gereizt in sein Schnittchen, das aus uraltem Brot und einer zentimeterdicken Lage eines bräunlichen Cenovis-Pflasters besteht. Das Cenovis tropft aus dem Mundwinkel. Wir wollen das hier nicht genauer beschreiben - ihr wollt ja alle noch zum Lunch!

Also: Ich ziehe Innocent den Gesichtsschutz am Gummi bis zum Knie und wische das Unbeschreibliche mit einem Papiertaschentuch aus dem virengefährdeten Kaubereich. Plötzlich halte ich etwas in den Händen. Ich schreie: «Igitt!». Werfe es ins Gras. Und schon krabbeln wir mit den Gästen im Gras herum. Alles sucht Innocents Unterzahn. Es ist der Einer links - ein bereits etwas schäbig gewordener Schneidezahn. Innocent jammert, als hätte er sein ganzes Vermögen verloren. Der «Einer links» (ich denke doch, man sagt dem auch heute noch so?) ist jedenfalls zur Hälfte futsch. Ein bisschen schaut noch hervor - ein Zipfelchen, wie das Hasenschwänzchen, wenn sich das Karnickel hinter dem Kohl versteckt.

Innocent startet jetzt ein Drama, von dem sich selbst Shakespeare noch ein Stück hätte abschneiden können: «Esss isssst sssrecklich... Wie ssssoll ich jetsssst mein Ssssnittchen esssen?» SCHON ZIEHT EIN STARKER WIND DURCH DIE ZAHNLÜCKE!

«Das kommt vom harten Brot», sage ich zufrieden. «Du gönnst es ja nicht einmal den Hühnern!» Und er bringt wieder die alte Leier: «Kein Brot ist hart», sagt er und drückt sich eine Träne aus den Augen. «Und besser man beisst in die harte Krume als ins weiche Grab!» Das mit dem Grab ist neu. Seit einem halben Jahr befasst er sich ausführlich mit dem Testament.

Dabei ist so ein Testament doch schnell geschrieben: «ICH HINTERLASSE MEIN GANZES HAB UND GUT DEM LIEBSTEN, DEN ICH HABE.» Fertig. Dann kommt mein gesetzlich eingetragener Name. Hammel schreibt man mit «a» und Doppel-«m». Beim Namen muss ich bei ihm nämlich aufpassen. Er hat schon meine Steuererklärung auf «Hummel» ausgefüllt. So habe ich sechs Jahren lang das Einkommen eines Ahornsirup-Lieferanten versteuert ( «Hummels Himmlisches Horn» - das Logo kennt ihr sicher), bis mir dieser gewisse Hubert Hummel (Kürzel: huhu) zum Dank sechs Büchsen mit der klebrigen Ahorn-Masse per Nachnahme zukommen liess.

Zurück ins Gras. Meine Freundin Kathy hat den Stummel gefunden. «Den musst du dir sofort neu aufziehen lassen.» Kathy streckt Innocent den bräunlichen Stummel hin. Jawohl. Er ist bräunlich. Wie eine «Schale Gold». Und das kommt nicht etwa davon, dass Innocent jahrzehntelang diese verdrehten Brissagos zwischen den Schneidezähnen eingeklemmt hat. Sondern davon, dass er unten nicht richtig putzt. Hab ich ihm schon hundert Mal gesagt!

«Du sssspinssst. Dasss Ssstück kleissstere ich sselber an!» Schon taucht er ins Badezimmer ab. Und kommt dann mit dem heraus, was der Dichter als «schiefes Lächeln» beschreiben würde. Die Sache wurde nämlich scheps geleimt. Ich schaue entsetzt auf das Resultat. Doch Innocent ist zufrieden: «Ich habe ja meistens die Maske an!»

Er rührt mich mit seinem schiefen Zahn. Und wenn ich gerührt bin, will ich ihn in die Arme nehmen. Jetzt sitzt er über dem Testament an seinem Schreibtisch. Ich schleiche mich von hinten an - drücke sein schmales Köpfchen an meinen dicken Bauch. Und was sehe ich? ER HAT WIEDER «HUMMEL» GESCHRIEBEN!

Dienstag, 20. Oktober 2020