Von Genen, Fettzellen und explodierenden Knöpfen

Illustration: Rebekka Heeb

Es ist ungerecht. Die totale Fehlkonstruktion von oben - ein göttlicher Griff in die Wühlkiste. WEISS DER TEUFEL WELCHE WETTE ER DA OBEN VERLOREN HAT! DA GIBT ES MENSCHEN AUF DIESER WELT, DIE FUTTERN SICH DURCH SCHWEINEHAXEN UND VIER MERINGUES AM TAG. SIE SIND BRANDMAGER. Daneben lässt ER diejenigen auf die Erde los, die als Dauer-Busse für irgendeine Untat an einer Möhre nagen. DIESE NAGENDEN UNGLÜCKSHÜHNER WERDEN RUNDER UND RUNDER WIE DIE ZUCKERWATTE AM STIEL... (Okay. Die mit den Möhren haben immer eine kleine Torte im Eiskasten. Muss ER ja nicht wissen!)

Leider gehöre ich zu der Art, die vom S t i e l der Zuckerwatte träumen. Und dann plötzlich so rasant rund werden, wie die Kugel am Holz. Vermutlich ist es genetisch. Wenn die Mediziner nicht mehr weiterwissen, sind es immer die Gene. «Schlechte Gene» sind die gute Entschuldigung für all das Miese dieser Welt. Nun - mein Vater futterte Spiegeleier mit Speck zum Frühstück. Spülte direkt aus der Bierflasche nach. Und schob drei Knoblauchschnitten hinterher. Dann rief er in die Küche: «Lotti - hats auch etwas Süsses? Mir ist so drum.» Für solche Fälle hatten wir einen Küchenschaft, in dem sich Kekse, Sachertorten und Linzerküchlein stapelten. LEIDER WAR DAS REGAL FÜR DAS KIND ZU GUT ERREICHBAR. Und so passierte es oft, dass die gute Mutter ins Schleudern kam: «Ja Himmel - da waren gestern doch noch zwei Nusstorten und vier Schokoküsse!» Natürlich sagte sie nicht Schokoküsse. Sie sagte das andere. Sie war aus einer Generation, in der jeder unverschämt politisch unkorrekt sein durfte.

SPÄTER NAHM SIE IHREN ALLERLIEBSTEN KLEINEN INS VISIER: «WENN DU NOCH EINMAL HINTER MEINEM RÜCKEN AN DAS SÜSSE GEHST, BEKOMMST DU DEINEN FETTEN ARSCH VOLL - KAPIERT!» Dann etwas versöhnlicher: «Du willst doch ein hübscher Junge sein wie dein Vater vor 30 Jahren?!» Wollte ich nicht. Ich wollte sein wie die junge Callas. Die war schrill. Und damals noch voll im Fett. Gar nicht wie mein Vater! Heute sagt mir mein Leibarzt Felix: «Du hast dir als Kind Fettzellen angefuttert... diese Fettzellen sind das Üble...» Was nun? Gene? Oder antrainierte Zellen? ES IST EIN DESASTER: Sie bringen Passagiere auf den Mond. Aber sie können dem Menschen den Traum der britischen Twiggy-Linie auch bei ungebremstem österreichischem Wiener-Schnitzel- Verzehr noch immer nicht erfüllen.

Als ich mich vor ein paar Tagen auf eine Lesung vorbereitete (es war die erste und letzte dieser Saison), schwebte die Frage im Raum: Was ziehe ich an? Die meisten von uns kennen das: Es geht weniger darum, welche Farbe zu grünen Augen passt. Vielmehr: Wo knallen die Knöpfe noch nicht wie der Flintenschrot an einer Lukaschenko-Demo. Das Fazit: Ich habe nichts, aber auch gar nichts anzuziehen. Doch gottlob habe ich einen K u c h e n im Eisschrank... denn eine Depression vor der Lesung mit fröhlichen Gedanken zum Weihnachtsbaum wäre wie ein Hundeschiss auf der Hochzeitstorte. Und Kuchen attackiert den Kummer! Innocent, der vom Schicksal schon mit wallenden Haaren und nicht wie unsereins mit drei, vier mickrigen Stoppeln verwöhnt wurde, jagt sich eben mal zwischendurch die siebte Cenovis-Schnitte rein. Er jault hysterisch, wie ich mich in der letzten roten Seidenkutte, bei der die Seitennähte noch nicht gerissen sind, probehalber präsentiere: «Geh mir aus der Linie... dieser Knopf am Bauch spannt wie Willi Tells Armbrust vor dem Schuss!» Sagts. Da knallt er auch schon in die Butter (nicht Innocent, der Knopf!). UND JETZT HABE ICH GAR NICHTS MEHR ANZUZIEHEN!

Ich will nicht stänkern - a b e r: Weshalb drischt da einer sieben Butter-Schnitten rein und bleibt ein Wurm! MIR aber HAGELT ES SCHON BEIM MAGERJOGHURT DIE KNÖPFE VOM RANZEN! Lieber Gott - ich frage nur. Mein Onkel Alphonse - Gott hab ihn selig! - liebte nur runde Frauen. Na ja, das ist jetzt schön dahergeredet. ER LIEBTE WEIBER, DIE TAILLEN HATTEN WIE DIE TANZENDEN NILPFERDE VON HERRN DISNEY.

So wurde Alphonse auch bald einmal einer der Stammgäste, welche die «dicke Berta» hinter der Rosentalanlage in ihrem Wohnwagen aufsuchten. Die «dicke Berta» war d i e Messesensation. Auf ihrem Knie konnten drei Erstliga-Mannschaften Fussballspielen - und wenn sie den Morgenrock (sie trat stets in einer Art Négligé auf, das aus dem alten Theatervorhang der Wiener Staatsoper zusammengenäht worden war - sie öffnete die Pracht und zeigte kokett ein Bein), wenn Berta also ihr Fleischigrosiges präsentierte, bekam mein spindeldürrer Onkel den Schluckauf, sodass seine Gurgel wie ein Pingpongball aufgeregt rauf- und runterhopste. Er strich sich über die tränenden Augen. Und stöhnte: «Was für ein Prachtsweib!»

Weshalb können heute Männer bei etwas Übergewicht ihres Visavis nicht auch die Gurgel hüpfen lassen? Und anerkennend nicken: «WOW - ALLES DRAN!» Nein. Heute klopfen sie dir auf den Ranzen. Und drücken dir einen Flyer für ein Fitnessstudio in die Finger. IST DAS POLITISCH KORREKT? WIR SCHÜTZEN DIE MENSCHEN VOR BÖSEN WORTEN - WIR LASSEN SIE ABER VOM JUGENDWAHNSINNIGEN SCHLANKFIMMEL DESAVOUIEREN.

Wie gesagt: ich hadere nicht. Ich frage bloss. Und vermutlich werde ich irgendwann nach Covid für mein Lesungsoutfit bei der Wiener Staatsoper anfragen müssen, ob der Vorhang für einen Kittel noch frei ist...

Dienstag, 3. November 2020