Von verschiedenen Spaziergängen und Waffeln in Stanniol

Illustration: Rebekka Heeb

SPAZIERGÄNGE?

Also damit könnt Ihr mich pudern!

Wenn so ein Grün-Fetischist unsern urgemütlichen Sonntags-Jass aufmischt und sein frohlautes «WOLLEN WIR AUF EINEN SPAZOTTEL GEHEN...» rauslässt - also ich könnte ihm die Punktetafel über den Schädel knallen!

Er sagt «SPAZOTTEL». Doch das macht es auch nicht netter.Ein Spaziergang ist ein Spaziergang - stets verbunden mit Bewegung, Hallux-Problemen und der bitteren Enttäuschung, wenn man endlich bei einem Restaurant angelangt ist: HEUTE WIRTESONNTAG!

Dabei haben sie mich schon als Kind mit einem Beizenbesuch sowie dem Versprechen «Die haben dort Schwarzwäldertorte!» überhaupt dazu bewegen können, meine Büsi-Mütze aufzustülpen. Und die Wanderschuhe anzukurbeln.GUT. DAS WAR NUR, WENN V A T E R DEN SPAZIERGANG PROPAGIERTE. Bei Vater waren Spaziergänge immer Leistungsmärsche. Er schritt froh voran - immer ein Grashalm zwischen den makellosen Zähnen und ein Lied dahinter: «Hoch auf dem gelben Wagen!»

ICH HABE MIR EINEN VATER MIT ACHT HÜHNERAUGEN UND EINEM EINGEKLEMMTEM ISCHIASNERV GEWÜNSCHT.

Jörg Abächerli hatte es besser. Dessen Papa lag an seinem freien Sonntag auf dem Bauch. Und spielte mit der Eisenbahn. Um vier Uhr liess er den Märklin-Transportzug mit Wienerwaffeln und Marzipankartoffeln in den Bahnhof einfahren. DAS SIND VÄTER!

ABER MEINER: «Hoch auf dem gelben Wagen!» - mit diesem Lied konnte man in Deutschland Bundespräsident werden. Aber nicht das Herz des kleinen Jungen gewinnen - ein Herz, das nach Bequemlichkeit, dezentem Luxus, zumindest aber nach einem «Caramelköpfli mit Rahmpfupf» dürstete. War nach dem Sechs-Stunden-Marsch endlich eine Beiz offen, lümmelte der Koch bereits in der Zimmerstunde. Für meinen Vater verbogen sich die Serviertöchter jedoch wie rostige Fleischerhaken und eilten selber in die Küche, um dort die Speckseite vom Haken zu holen.

Die Frauen in der Runde bekamen ein Glas wässrigen Tee, neben dem ein eingeklemmter Zitronenschnitz das Sonnigste war. «Thé citron» hiess das.

Wir Übrigen wurden vom weiblichen Beizen-Staff nämlich krass ignoriert. ABER VOLLKRASS, SAGE ICH EUCH. Und oft hörte ich grell geschminkte Lippen nahe an Vaters Abstehohr flüstern: «JA MUSST DU DENN DIE GANZE BAGAGE MITBRINGEN, HANS!»

Die dienende Frauenrunde schaffte für den Schellentramper vom Sechsertram Senf an. Hackte Brot an einem Guillotine-artigen Gerät in Scheiben. Und schnitt den Speck. Die Weiber kicherten albern, wenn er sie in die Weichteile kniff - da konnte die gute Mutter lange die Augen zu Gottvater verdrehen «Er kanns nicht lassen!». Mein Vater kniff und tätschelte, bis die Omama total genervt ihren Schwiegersohn aufforderte: «Me too!»

ES WAREN ANDERE ZEITEN.

Die Spaziergänge in die Natur waren nicht immer so romantisch, wie sie von Lyrikern gerne illusioniert werden - das Romantischste waren in buntes Stanniol gewickelte Schokowaffeln, die allerdings schon beim Besuch von General Guisan im Beizenkörbchen gelegen haben müssen. Wenn das Kind heisshungrig reinbiss, explodierte die morsche Waffel wie ein chinesisches Billigfeuerwerk und versprühte ihr vertrocknetes Sägemehl bis an die Wand, wo der General hinter Glas missgelaunt in die Runde stierte. Vermutlich hatte man ihm auch solche Waffeln serviert...

Natürlich gab es auch dezentere Sonntagsspaziergänge - ohne Wurst mit Senf und hinterhältigem Kneifen. Wenn die Frauen der Marzipan-Seite unserer Familie zu ihren prächtigen Hüten griffen und die schwarzen Spitzenschleier bis zum Kinn runterzogen, dann wurde das aber noch schlimmer als der Wurst-mit-Brot-Sonntagsspaziergang. TRIST - SAGE ICH EUCH! MEGATRIST!

Zuerst ging es auf den Friedhof zu den Verblichenen. Vor jedem Grab wurde still geweint. Danach der Schleier gehoben. Und die rötlichen Augen mit Belladonna geklärt. Den Buben hatten sie in seinen besten Anzug gesteckt. Dazu: weisse Socken. Und schwarze Schuhe, die drei Nummern zu gross waren («Da wächst er morgen schon wieder raus!»). Es war, als müsste ich in zwei venezianischen Gondeln auf Friedhofswegen wandeln. Das Schlimmste war jedoch dieser Schlips, der an einem Gummifaden angemacht war. Und den Onorio, der lustige Kellner im Café Luxor, jedes Mal vom Kragen wegzog. Und dann zurückschmettern liess.

Die Frauen konnten sich gar nicht mehr einkriegen vor Lachen. Die holde Weiblichkeit hatte nun mal den Narren am Kellner aus Palermo gefressen. Die Wimpern, die sie vor dem Café-Besuch schwarz getüncht hatten, flatterten wie Schmetterlinge auf Kokain, wenn er sie fragte: «Was darf es denn sein, schöne Damen?!»

15 Minuten später balancierte der Palermo-Kellner drei blumenvasengrosse Coupes randvoll mit Glacekugeln und Amarena-Kirschen an. Daneben wackelte ein kleines, silbernes Tässchen mit einer Kugel Vanille-Eis. E I N E R ! DAS WAR FÜR DAS KIND.

Immerhin - weil Onorio bei mir immer den Schlips-Trick loswerden konnte, steckte er mir als Spass-Prozent ein chinesisches Papierschirmchen in die Kugel.

VERSTEHT IHR NUN, DASS SONNTAGSSPAZIERGÄNGE NICHT MEIN DING SIND?

Schon gar nicht jetzt, wo alle Beizen geschlossen sind. Keiner mehr kneifen darf. Und Frauen eh keine Hüte mehr tragen.

Illustration: Rebekka Heeb

Dienstag, 16. März 2021