Von Frisören und ihrem Rundumschnitt

Illustration: Rebekka Heeb

Ich sitze auf dem Coiffeursessel. Diese Stühle sehen heute aus wie die Liegen zur Reise ins All. Früher gab es eine papierbezogene Kopfrolle. Den abgegriffenen Playboy. Und das nervige «Dligg-dligg» einer Schere.

Heute sind Coiffeur-Besuche Party-Party. Der Lärmpegel donnert wie in der Steinenvorstadt ab 23 Uhr. Und von vier Bildschirmen hämmert der Musikkanal auf dich ein. In all diesem hektischen Jungbrunnen nervt ein Alter mit Bauch: «Anderhalb Zentimeter. Nur wenig.»

Mein Coiffeur heisst Adil. Das bedeutet: der Gerechte. Mein fitter Vetter hat sich für ihn scharfgemacht: «Den musst du unterstützen - der stemmt mit mir im Fitti Gewichte. Ein prima Kerl. Überdies schneidet er nicht nur super. Er bringt dir auch ein Glas Tee im Glas.»

Seither also hocke ich beim Gerechten. Oder eben: auf dem Schragen von Adil. Er kommt aus Syrien. Mit dem Tee im Glas. Gut. Ich sitze da mit einem schlechten Gewissen. Denn es werden immer weniger Schweizer Frisöre. Ein bisschen ist es wie jenseits der Grenze einkaufen: Der Syrer ist billiger. Und sein Tee gut.

Ähnliche Überlegungen kommen bei meinem fitten Vetter nicht gut an: «Ja spinnst du jetzt - da machst du mit deinem politischen Gesülze von Integration stets alle madig. Und jetzt kommst du mit solchen Haarspaltereien. Wichtig ist, dass Adil einen guten Schnitt macht. Wenn er dazu noch unsere Hymne kann: Auch recht!»

Mein fitter Vetter Tom hat gut reden. Er besitzt praktisch kein Haar mehr. Möchte mal sagen: Es lichtet sich nicht nur. Alles fällt aus. Tom ist haartechnisch gesehen das Huhn in der Mauser. Das kommt davon, weil er im Mucki-Tempel an diesen Geräten alle Energie in die Unterschenkel pumpt. So ist oben weder Platz für Hirn- noch Haarzellen. Ich weiss überhaupt nicht, weshalb Tom zu Adil geht? Das Frisieren kann es nicht sein: Adil bläst einmal über das Schüttere. Schon ist Toms Friese gelegt.

Auf unserer Insel hingegen greift Memmo zur Schere. Er greift schon seit 40 Jahren. Und hat kein Haar am Hafenort ausgelassen. Bei Memmo sind die Stühle, was man heute als «retro» bezeichnet: Schlitze im angerissenen Leder. Aus den Schrammen quillt Rosshaar und von der Rückenlehne ein Duft vom Schweiss aller besoffener Fischer, die sich hier einmal im Jahr den Bart seifen lassen. Memmo wedelt mir eine Kunststoff-Pellerine um die Schulter. Und schaut fragend: «Come?»

«Solo poco... poco!» Ich zeige mit Daumen und Zeigefinger eine Länge von 1,5 Zentimeter. Die Männer brüllen in der Barbiere-Stube. Sie können sich gar nicht einkriegen: Man darf in Italien das Mass aller Dinge nie mit Daumen und Zeigefinger angeben. Es wird falsch interpretiert. Nach zehn Minuten hat Memmo fertig. Es sind immer zehn Minuten. Und es ist stets dasselbe Bild: Die Haare sind bis auf 1,5 Zentimeter weg! Das ist Memmos Rundum-Schnitt für jeden und alles.

Natürlich gibt es auch auf deutsch-haarigem Gebiet die grossen Figaro-Legenden wie Memmo auf unserer Insel. Mein Freund Päuli Burkhalter hat mir immer wieder Udo Walz ans Herz gelegt: «Tout Berlin liess sich von ihm die Welle legen... Er war so ein Schatz!»

Wenn ich aber Pauls Frisur nach Udos Scherenschnitt-Oper betrachtete, musste ich sagen: Das Resultat ist auch nicht viel anders als der Memmo-Schnitt am Hafen. Vielleicht ein Hauch Gelächter...

Während meiner Wiener-Jahre hatte ich «Karl». «... bei Frisör Karl geht der Wiener Schmä ein und aus!», hatte mich meine Vermieterin auf den Wellenleger scharfgemacht. «Was solls denn sein... Herr Doktor!?», schmalzte der Schöne mit dem Backenbart aus der Kaiserzeit.

Ich zupfte in meinen Locken: «1,5 Zentimeter.» Den falschen Doktor liess ich geschmeichelt im Haar stehen. Sie servierten mir ein Glas grässlich süssen Sekt. Wenn schon Süsses, so ist es mir in fester Form lieber: «Habt ihr auch Kardinalstorte?»

Damit war «der Herr Doktor» für Frisör Karl sofort gestorben. Ich wurde mit dem üblichen Memmo-Rundum-Schnitt entlassen. Für den Preis hätte ich mir bei Sacher 120 Kuchen backen lassen können. In der «Krone»-Zeitung habe ich später Herrn Kanzler Kurz mit einem Glas vom Süssen bei Frisör Karl abgebildet gesehen. Herr Kurz hat allerdings sein langes Haar vor Karl retten können - vermutlich sind die Leibwächter eingeschritten.

Unsereins hat leider keine Leibwächter. Deshalb wiederhole ich es bei Adil nochmals gaaaanz langsam: «nur weeeenig - anderthalb Zentimeter!»

Der Service von Adil ist leicht sadomaso : Er brennt die Härchen in meinen Ohren mit einem Feuerzeug aus. Und besprüht die Birne mit einem Duftwasser, welches auch nach drei Wochen noch sämtliche Wespen der Region anzieht. Der Rest: Memmo-Rundum-Schnitt. Wie im Hafen. Und ein Glas Tee.

Montag, 23. August 2021