Lesen war mein Ding

Illustration: Rebekka Heeb

ABER SO WAS VON! Es ist sicher nicht die Vaterseite, die mir den Bücherwurm vererbt hat. Vater besass nur drei Bücher: «Meine Berge» - ein kolossaler Bildband mit allen Kletterpartien Europas. Die Touren waren mit Schwierigkeitsgraden angegeben. Und Vater machte es nie unter römisch sechs - wenn bei uns in der Küche jedoch die Glühbirne gewechselt werden musste, streikte er: «Ich kann nicht auf die Leiter - ich bin nicht schwindelfrei!» Er schwindelte nach eigenen Regeln.

Das zweite Buch war die Bibel, die er vom Pfarrer samt der Braut zur Hochzeit bekommen hatte. Sie war dick und schwer. Und er benutzte sie, um darin Edelweiss für seine Freundinnen platt zu pressen.

Dann natürlich: «Das Kapital». Das Buch war von Vater Marx - aber das eigentliche Kapital kam bei uns von der Mutterseite. Man sah dies allerdings im sozialistischen Umfeld nicht so eng wie bei den kapitalistischen Pfeffersäcken.

Die Kembserweg-Omi wiederum war ganz heiss auf Arztromane. An ihren freien Tagen hielt sie die Flasche Coruba-Rum mit beiden Händen umschlungen. Den Doktor mit dem komplizierten Liebesleben hielt sie auf der Schoss. Ihre Lippen murmelten entrüstete Schimpfwörter - «Diese dreckige Schlampe!» -, wenn die schwarzhaarige Arztgehilfin Intrigen gegen die blonde Hilfsschwester spannte. Am Schluss hatte sie vier Taschentücher nass und die Rumflasche trocken geleert: Die liebe Blonde hat den Arzt auf der zweitletzten Seite doch noch bekommen. War auch höchste Zeit: Denn der Rum war weg.

DIE BLONDEN HILFSSCHWESTERN BEKAMEN DEN ARZT NATÜRLICH JEDES MAL. Denn das Konzept war vorgegeben: schwarzhaarig ist schlecht, blond ist gut. Und der Arzt ist ein Trottel. Er braucht tatsächlich ganze 80 Seiten, um dies zu merken.

Ich möchte jetzt nicht behaupten, dass die Seite meiner Mutter Intellektuelleres verschlang. Aber immerhin hatte man Kultur im Abo: Das Ganze nannte sich «Büchergilde Gutenberg». Die Gilde schickte frei Haus jeden Monat ein Buch auf Jahresrechnung. Diese Schmöker wären alle ungelesen im Bücherregal verstaubt, hätte sich das Kind nicht ihrer erbarmt. Der Bub verschlang einfach alles, was ihm unter die Augen kam: von Vaters kommunistischem Leibblatt «Vorwärts» bis zu Gotthelfs «Annebäbi Jowäger». Letzteres wurde als humoristischer Roman angepriesen. Und ich will Gotthelf nicht zu nahe treten - aber richtig lachen musste ich erst später bei der Verfilmung, als die gute Margrit Rainer als Magd Mädi bei Lisi handgreiflich wurde. DAS WAR KULTURELLER ZOFF NACH MEINEM GESCHMACK.

So. Gottlob war da auch Tante Gret. Sie war eine Ur-Lesbe. Rauchte Pfeife. Bestieg mit Vater alle Gipfel dieser Welt. Und fuhr statt mit einem senfgelben Kinderwagen in einem roten Sportflitzer durchs Quartier. Als Zahnärztin hatte sie eine humanistische Ausbildung genossen. Sie wäre gern Literaturkritikerin geworden. Ihre Familie hatte die Wurzeln jedoch bei den Zahnreissern. Also biss auch Gret mit jungen Zähnen ins alte Brot der Traditionen. Sie wurde Expertin für Ganzprothesen und Brückenbau.

In ihrem Wartezimmer hatte sie Literatur vom Feinsten ausgebreitet. Doch die Bücher waren so unberührt wie Nonnen hinter Mauern. Kein Schwein wollte sich in Emil Zolas «Mutter Erde» oder Colettes «Blaue Flamme» vertiefen. Wenn einer weiss, dass ihm in einer halben Stunde die Beisser gerupft werden, ist niemandem nach schön gestrickten Worten.

Na gut - ich machte mich also über Tante Grets Wartezimmerlektüre her. Und war begeistert. Die Tante sprach dann ein ernstes Wort mit ihrer Cousine: «Lotti, der Bub ist interessiert. Und ihr füttert seinen Geist mit den Morden um einem gewissen Jerry Cotton. Das Kind muss sachte in die gute Literatur eingeführt werden.»

Da Tante Gret meinen Vater schon viermal in der Kletterwand am Seil runtergelassen hatte, reagierte die sonst ziemlich energische Mamma respektvoll: «Wenn du meinst, ich zeige ihm morgen, wie man Börsenkurse liest.» Tante Gret war es dann auch, die mir die ersten Kinderbücher von Kästner kaufte - «Emil und die Detektive», «Das doppelte Lottchen» und meinen Liebling «Das fliegende Klassenzimmer».

Wenn mein Vater mich in den Bergen auf die Alp schleppen wollte, lag ich im Bett. Täuschte Kopfschmerzen vor. So las ich mich durch die Kinderbücherwelt von Maria Aebersold und - endlich, endlich! - Agatha Christie. Die alte Dame mordete nämlich literarisch einwandfrei. Ich verehrte sie (immer noch!), und als Innocent und ich für einige Wochen in Aleppo wohnten, wollte ich nicht etwa die Ausgrabungen der Stadt Qatna, sondern das Zimmer im alten Hotel Baron sehen, wo Agatha Christie ihren Orient-Thriller geschrieben hatte. Wie ich ihre alte Remington-Schreibmaschine auf dem wackligen Tischchen sah, heulte ich.

«Mein Gott, bist du eine Schnulznudel», regte sich Innocent auf. ABER HUNDERT PRO! 1000 Ärzteromane gehen nicht spurlos an einem vorbei.

Montag, 1. November 2021