Von der neuen Karre und dem billigen Esel

Illustration: Rebekka Heeb

Wir haben eine neue Karre. Nein. Keinen Flitzer. Auch kein Wohnmobil, obschon dieses jetzt ziemlich hipp wäre. WIR FAHREN EINEN ROLLSTUHL. Und werdet jetzt nicht gleich melancholisch: «Ach Gott - wie tragisch. Das Alter rollt nur noch auf Holpersteinen...» ÜBERHAUPT NICHT! So ein Stoss-Rolls bringt sehr viele Vorteile. Keine Parkplatzprobleme. Keine Stinkefinger, wenn du, ohne zu zeigen, abbiegst. Und keine Warnlampen auf dem Tacho. JETZT MAL EHRLICH - WER KENNT SICH SCHON MIT DIESEN ELEKTRONENLÄMPCHEN AUS, WENN SIE ZU GLÜHEN BEGINNEN. Das Einzige, was du mit Sicherheit weisst: Der Motor raucht demnächst wie Humphrey Bogart in Casablanca.

Im Übrigen ringt ein Rollstuhl selbst den mürrischsten Klimastreikenden ein sanftes Lächeln ab: Der Invaliden-Karren ist nämlich umweltfreundlich. Selbst die alten 68er mit dem «KEINE ATOMKRAFT»-Kleber auf dem Rucksäckchen halten ihren BMW am Fussgänger an und machen gönnerhaft ihr V-Zeichen. Du fühlst dich als Gelenkter wie auch als Stosser beschwingt-fröhlich - zumindest so lange, bis du mit der Fuhre ins Tram einsteigen willst. Da werden die Leute knurrig, wenn du etwas länger brauchst, bis die Räder ab und die Krückenstöcke dran sind. Natürlich war Innocent anfangs total dagegen, meckerte: «Da hocke ich dir nicht rein. Du ziehst doch nur deine miese Florence-Nightingale-Show ab. Du missbrauchst mich als deine Requisite...» Na gut. Ich stosse ihn mit verklärter Mater-dolorosa-Miene durchs Quartier. Der Fleischer gibt mir Prozente. Und die Blumenfrau ein «Immergrün». ALSO BITTE! Das Mitleid-Potenzial brummt: «Ich bewundere Sie für Ihre Geduld, lieber Mann...» Danke. Ich nehme Prozente, Checks und auch Gutscheine. Im Übrigen bewundere ich mich auch.

Ganz klar: In den meisten Fällen erwecken Rollstühle Mitleid. Manchmal allerdings auch etwas aussergewöhnliche Begehren - etwa, wenn ich Innocent mit einem Affenzahn durch die Vorstadt stosse. Hier ist es schon vorgekommen, dass uns Knirpse, die wir keuchend überholen, auf ihren Rollbrettern nachgerufen haben: «Hee Alter - wollen wir tauschen? Kannst du mich mal mit der Karre den Spalenberg runterrattern lassen...»

«WAS HAT ER GESCHRIEN?» - Innocents Ohren hängen im Gegenwind immer gleich raus. Und baumeln am Elektrofaden. Am schlimmsten ist es, wenn er diesen verdammten Mundschutz über die Löffel zieht. Da hüpfen die kleinen Apparätchen aus der Ohrmuschel wie Popcorn aus der Pfanne. «Er möchte mit unserem Rolls-Royce Gokart fahren...», brülle ich. Und schraube seine Verstärker wieder rein. Er macht sein Schlaumeiergesicht: «Was schaut für mich da raus?» Beim Spalenbrunnen bleibe ich keuchend stehen: «Da schaut gar nichts!», keuche ich wütend. Mein Herz rast wie an diesen Rennen, wo die Autofahrer am Schluss mit Champagner ejakulieren. Ich spüre, dass mir der Most ausgeht. DAFÜR BRAUCHT ES KEIN ROTES LÄMPCHEN AM TACHO. MEIN PULSSCHLAG SAGT ALLES.

Innocent hat es sich im Rollstuhl gemütlich gemacht. Er hat wie ein ausgehungerter Hund auf diese gebutterten Dinger vom Brezelkönig gestiert, bis sich eine Frau erbarmte: «Jetzt geben Sie dem armen Mann doch etwas zu essen - Sie gefühlskalte Seele!» Ich habe es vornehm überhört. Innocent aber startete vom miesen Mitleid dieser Schnulzschnepfe angestachelt einen langen Seufzer und schaute von seinem Rollstuhl aus so mitleiderregend in diese eiskalte Welt, dass die Kuh ihr Taschentuch und den Geldbeutel zog... schon butterten sie ihm die Bretzel. Er schaute triumphierend zu mir: «Morgen fahren wir so zum Finanzdepartement - wollen wird doch schauen, ob meine Schnüffelnummer dort nicht auch ein paar Prozente rausholen kann...»

Die Diskussion im Fachgeschäft mit den Bettpfannen, Rollatoren und Treppenliften zwei Wochen vorher ging etwa so: «Ich huste dir jetzt gleich Klartext, mein Lieber - keine zehn Pferde bringen mich in so eine Schubkarre. Ich bin noch nicht alt. Und ich kann wunderbar mit den Stöcken gehen...» Ja. Ja. Ja. Kann er. Nur: Bis zum Käseladen an der Ecke müssen wir schon zwei Tage Urlaub eingeben. Und: Nein. Nein. Nein. Ich sage nichts. In dem Crashkurs «Wie pflege ich die Nächsten ohne ein Magengeschwür» hat man uns als Erstes eingebläut: «NIE WIDERSPRECHEN! - DEM PATIENTEN IMMER RECHT GEBEN» Ich versuche, oooohmend die Mitte zu finden: «Ja dammi - denkst du vielleicht auch einmal an m i c h! Der Rollstuhl ermöglicht uns ein ganz normales Leben...»

Der Verkäufer, ein charmanter chinesischer Secondo, hatte es empathisch drauf. Er taxierte Innocent drei Sekunden - schon holte er ihn sich an die Angel: «Der Rollstuhl ist sehr bequem. Sie haben einen Chauffeur, der Sie umsonst fährt. Und Sie brauchen sich nie mehr um Ihren Promille-Zustand zu kümmern...» «GEKAUFT!», klatschte ihm Innocent auf den Rücken. Und der nette Chinese: «Es gibt ganz neue Modelle. Die sind mit Solarstrom betrieben...»

«Ach was - wer will denn eine teure Sonnenzelle, wenn er den billigen Esel im Stall hat!» Ich sage euch: Florence Nightin gale und Mutter Teresa hatten es einfacher...

Illustration: Rebekka Heeb

Montag, 15. November 2021