Von den neuen Apotheken und den alten Hausmittelchen

Illustration: Rebekka Heeb

Herr Dreher war unser Apotheker. Er drehte noch selber. Und salbte auch. Wenn ich mit meiner Mutter die alte Apotheke an der Ahornstrasse betrat, holte er ein grosses, schweres Glas. Drinnen verstaubten dunkle Stängel: Süssholz. Ich durfte mir so ein Süssholzästlein aussuchen. Ich mochte kein Süssholz. ICH KAM EHER AUF DEN HIMBEER-BONBON-TYP RAUS! Und diese Dääfeli bewahrte Frau Iseli in ihrem Lädeli für die Kleinen auf.

«Wotsch e Dääfi?» - schaute sie uns listig an. Schon schlotzten wir das kleine Süsswunder zu Brei. In der Gier zerbissen wir den Rest. Und spuckten einen Milchzahn aus. (Das Himbeerglück von Frau Iseli wurde von der Zahnärztegesellschaft subventioniert). Beim Süssholz war es anders. Da kaute ich dreimal den Staubstecken zu Stroh. Und würgte bitter. Es war kein Zuckererlebnis. DESHALB MISCHTE PILLENDREHER-DREHER AUCH NIE DIESELBEN SYMPATHIENKARTEN BEI MIR WIE DÄÄFI-DANTE ISELI...

Anders wars im Gellert: Bei Frau Apotheker Christ wurde der süsse Bub mit einem Bonbon gefüttert, das sie Hischbe-Dääfeli nannte. Es linderte den Hustenreiz. Wurde von der Apothekerin persönlich aus Eibisch gekocht. Und schmeckte göttlich. Beim Metzger bekam ich ein Reedli Wurst. Bei Frau Schneiderhan ein schiefes Vermicelle-Därtchen. ABER HALLO: Da war es noch wunderbar, ein Kind zu sein. Heute müssen die Mütter auf Teufel komm raus Punkte sammeln, damit der Kleine irgendeinen gruseligen Stoffvampir nach Hause tragen kann. Süsszeug steht eh auf der Kinderverbotsliste. Dafür lassen die Alten dann das Cannabis rumgehen.

Doch das ist nicht das Thema. Sondern die Apotheke. Und die wurde von meiner Mutter emsig in Beschlag genommen: Sie litt an Migräne - also drehte ihr Dreher ein Mittelchen. Oder Vater hatte sich zu lange vor dieser grässlichen Höhensonnenkugel mit ultraviolettem Licht grillieren lassen - jetzt brauchten seine Brandstellen eine lindernde Salbe. Herr Dreher salbte drauflos.

Unser Apotheker war der Vertrauensmann bei Gesundheitsfragen der Familie. Die Kembserweg-Omi begutachtete seine Pillen, die er zum «Rausschwitzen des Übels» handgefertigt hatte, mit dem Misstrauen einer Putzfrau, der auch Meister Proper suspekt war: «Essigsocken und Zwiebelwickel. Das hilft immer - dafür brauchen wir keinen Quacksalber im Quartier!»

Allerdings kaufte sie ebenfalls bei Dreher ein: Wyybäärtli. Und Saridon. Die rhombenförmigen, schwarzen Hustenpastillen in der Grösse eines Baby-Fingernagels gabs in kleinen, blauen Döschen. Der Basler Mediziner Emanuel Wybert hatte das Rezept aus den USA mitgebracht. Und einem Freund in die Goldene Apotheke an die Freie Strasse gebracht. So wurden die schwarzen Dingerchen zu Wyybäärtli. Oder eben Gaba. Im Namen Gaba entdeckt man nämlich: G-oldene A-potheke BA-sel.

Da die Kembserweg-Omi paffte wie ein Schornstein, schüttete sie die kleinen Tablettchen nicht etwa gegen den Husten rein. Sondern gegen den Zigarettengeschmack im Mund: «So rauchig kann ich nicht zu meiner Herrschaft » Und dann natürlich Saridon. Die Omi wäre nie ohne das kleine, silberfarbige Metalldöslein zum Putzen gegangen.

«Du bist doch voll zugedröhnt!», nervte sich mein Vater, «da hat es Tonnen von Koffein und andere gefährliche Stoffe drin. Deshalb fährt ihr Weiber so drauf ab! Ihr werdet süchtig danach.» Tatsächlich wurde das Gerücht kolportiert, die Saridon-Abfüllerinnen würden sich die weissen Pillen in der Pause aufs Butterbrot streichen. Das war vermutlich nur dummes Geschwätz. Die Omi hingegen zwitscherte bei mieser Laune oder Wallungen ein halbes Büchslein rein. Und war dann wieder total gut drauf. Saridon war der Putzfrauen-Joint in den 50er-Jahren.

Apotheken hatten früher auch ein ganz eigenes Parfüm. Ich kann es nicht mehr definieren: Aber Äther, Alkohol, ätherische Öle - all dies wird wohl dieses Duftgemisch ausgemacht haben. Und natürlich wäre da nie einer hinter dem Tresen gestanden, der nicht ein Namensschild mit dem Dr. davor getragen hätte. Heute?

Ach Kinder, wenn mein Innocent eine Infektion aufbaut und plötzlich hohes Fieber hat, rufe ich in Panik die Spitalärztin an. Sie drückt mir sekundenschnell ein Rezept für Antibiotika über Whatsapp durch. Damit jage ich in die Apotheke. Nichteingeweihte würden an dem Laden vorbeigehen. Denn von aussen sieht er aus wie eine Boutique für Nagellack. Jedenfalls stehe ich in der Warteschlange. Verkürze meine Wartezeit beim Analysieren des Angebots von vier Regalen mit SLIM-FOOD-PACKUNGEN. Und muss dann von der Verkäuferin hören: «Ach, das tut mir leid. Dieses Antibiotikum haben wir nicht auf Lager... Aber morgen nach zehn Uhr ist es hier.»

«MORGEN IST DER PATIENT VIELLEICHT TOT», gebe ichs ihr eisig!

Apotheken vertickern heute alles im Shop - von der Haus-Injektion für straffe Brüste über Bio-Lachsflocken für Hauskatzen bis zu diesem süssen Parfüm, das Marlene Dietrich an ihre berühmten Waden geschüttet haben soll. Alles da - nur mein Antibiotikum nicht! Ich weiss nicht, was ich machen soll. Die nette Verkäuferin weiss es auch nicht.

Hinter mir knurrt eine falsche Blonde: «Ja dauert das noch lange... Ich kann nicht drei Stunden für ein Färbe-Shampoo anstehen.»

Ich gehe heim. Und mache Innocent Essigsocken. «Essigsocken helfen immer!», hat die Kembserweg-Omi gesagt.

Illustration: Rebekka Heeb

Montag, 29. November 2021