Von der Reise auf die Insel und Sternen

Illustration: Rebekka Heeb

Er wollte weg. Abhauen. Anfang Dezember stand er in Trainerhosen und dem gelben Sommerkittel vor dem Lift: «Wann kommst du endlich? Ich habe gepackt!» - «Wohin willst du denn?» - «Auf die Insel. Die Festtagslichter warten auf uns.» Tatsächlich leben wir auf dem winzigen Inselfleckchen Le Cannelle weit weg von jeder Zivilisation - wir schicken diesen Bericht mit Rauchzeichen ab. ABER: Gianni, unser Mann fürs Grobe, hat vor mehr als 20 Jahren nach einem Grappa-Suff eine Weihnachtsbeleuchtung zusammengetrommelt, mit der man problemlos ganz Manhattan hochleben lassen könnte.

Ich habe dann zuerst einmal sämtliche Kunststoff-Rentiere und hampelnden Plastik-Kläuse entsorgt. Alles Gedüdel stumm gestellt - und dann waren es nur noch Lichter. Hunderte. Tausende. Eine kleine Milchstrasse in der Insel-Wildnis. DAS TÖNT JETZT ECHT KITSCHIG. JAWOHL, MEINE LIEBEN. IST ES AUCH.

Jedenfalls: Wir sind die letzten 30 Jahre nachts oft draussen gesessen. Haben uns am Heiligen Abend in Decken gewickelt. Und einfach nur stumm diesen Sternenhimmel auf uns wirken lassen. «Es ist magisch», hat Innocent einmal gesagt, «auch wenn du an NICHTS glauben willst - das hier ist die strahlende Antwort auf nichts.» Ich habe Innocent also aus dem fadenscheinigen Sommerkittel geschält. Ihm die rutschsicheren Wollstrümpfe mit den Gumminoppen übergestülpt. Und erklärt: «Irgendwann fahren wir hin!» - «Wann ist irgendwann?» - «Bald.» - «Wann ist bald?» - «Irgendwann.»

Dann war es plötzlich so weit. Die Corona-Zahlen explodierten wie Popcorn in der Pfanne - und selbst «Dotti», die gute Seele, die Christoph während seiner vielen Chemotherapien betreut hat, riet: «Ich denke, Sie sollten jetzt wegfahren; in der Einsamkeit ist er vor Ansteckungen besser geschützt.» Also legten wir los. Hals über Kopf. Erste Nacht in Lugano - und die Nachricht: «Italien verlangt ab morgen für Einreisende einen PCR-Test.» Protestschrei: «Aber wir sind geboostert!» - «Reicht nicht!»

Nun sagt ihr mit Recht: «So ein Test ist ja in jeder Apotheke im Nu gemacht.» Stimmt. Aber nicht mit einem Partner, für den ich zwei Stunden brauche, bis seine Beine in diesen verdammten Gummistrümpfen stecken.

Nun gut. Vor Weihnachten hängen alle ihre Gut-Herzchen raus. Im Hotel hat man uns einen Chauffeur organisiert. In der Apotheke einen «Subito-pronto-Termin» gebucht. Und als wir beide mit dem Testzertifikat «negativ» wieder draussen in dieser verseuchten Welt standen, war Innocent durch die Leuchtschrift «BAR CENTRALE» animiert: «Wir sollten das Negative jetzt positiv feiern.» SOLCHE WORTSPIELEREIEN SCHALTET ER NOCH IMMER BRAVOURÖS. VOR ALLEM WENN ES UM EIN GLÄSLEIN PROSECCO GEHT.

Am andern Tag - der Test war noch immer fünf Stunden gültig - fuhren wir in Chiasso an die Grenze: Handys auf Covid-Zertifikat eingestellt... ID in den Fingern 24-Stunden-PCR auf den Knien - und dann winkten sie uns einfach durch. «Dass du immer so ein Theater für nichts anstellen musst», höhnt Innocent. ICH? THEATER? DIE WELT IST EIN THEATER! Wir steckten dann zwischen Mailand und Bologna im Stau. Gottlob hatten wir sämtliche Weihnachtsgutzi bei uns - als der Stau sich löste, waren vier Kilosäcke mit Anisbroten, Spitzbuben und Brunsli leer. Dummerweise sind wir in Bologna in einem Hotel abgestiegen, das auf «CONGRESSI» spezialisiert ist. Man möchte ja meinen, in einer Wirtschaft, die dümpelt, dümpeln auch Kongresse. FALSCH GEDACHT.

Als wir morgens in der Garage unsere Karre holen wollten, waren drei Stockwerke zugemüllt mit Ferraris, Bugattis und Ähnlichem. Entsprechend haben sie unseren kleinen VW weit hinten zwischen Boilern und ausrangierten Bidets versteckt. Ein ganz Schlauer mit dottergelbem Porsche hat in der Einfahrt seine Kutsche abgestellt. Dem Parkmann die Schlüssel zugeworfen. Und war verschwunden.

Leider waren es die falschen Schlüssel! UND UNSER AUTO WAR BLOCKIERT. Wir warteten zwei Stunden auf die Polizei, die mit einem Gummihammer die Türe der Angebergondel aufbrach. So kamen wir erst nachts auf der Insel an. Weil es die Himmlischen aber gut mit uns meinten, hängten sie den Vollmond und alle Sterne raus. Das teerschwarze Meer glitzerte, als hätte man es mit Tonnen von Diamanten ausgelegt. Und von weit, weit schon funkelten uns Lichter aus unsern Olivenbäumen entgegen. Innocent nahm meine Hand: «Jetzt ist Weihnachten... Irgendwann ist immer jetzt!»

Gianni stand am Tor. Er winkte. Als er Innocent sah, wie er sich an seinen Krücken aus dem Auto stemmte, hat er ihn umarmt. Dies nach 40 Jahren zum ersten Mal. Seine Augen waren rot - aber die Menschen auf der Insel schlucken Rührungen runter wie der Fisch den Wurm.

Er hüstelte ein bisschen. Dann zeigte er auf die grosse Wiese vor dem Haus. Im Gras standen zwei Sessel: «Ich habe gedacht, ihr wollt heute Nacht die Sterne sehen.»

Illustration: Rebekka Heeb

Montag, 27. Dezember 2021