Von der Höhensonne und der vornehmen Blässe

Illustration: Rebekka Heeb

Unsere Familie unterschied sich in eine blasse Seite (vornehm). Und in die rote (hoher Blutdruck, Schnaps, offene Beine).

Mein Vater gehörte zu den Roten. Das war nicht nur politisch so. Rot war ganz einfach seine Farbe - Krawatte, Wandersocken, Manschettenknöpfe: ALLES FEUERROT! Er liebte Rotkraut, rote Beete und Rotkäppchen-Sekt (nun ja - er soff eh alles, was ins Prozentige ging). Wo andere Mayo auf die harten Eier drückten, klopfte er die Ketchupflasche aus. Und an den Verkehrskreuzungen blieb er mit seinem Tramzug unter dem Gehupe genervter Autofahrer stoisch stehen, bis die Ampel endlich auf Rot wechselte. Dann erst fuhr er los. Ähnlich wie die Velofahrer heute.

WIE GESAGT. ROT. ROT. ROT.Der Rest der Familie war da rat- und rotlos.

Der Erzeuger des schönsten Kindes der Stadt hätte alles gegeben, um zu den Braunen zu gehören. NEIN, IHR DUMMIES - NICHT IM POLITISCHEN UMFELD. Wir reden von seinem Teint. Denn wenn die vornehmere Seite jeden Sonnenmoment wie der Teufel das Weihwasserbecken mied, so brauchte es nur einen winzigen, kleinen Lichtstrahl, der sich durch einen milchigen Nebel kämpfte, dass sich mein Vater in Trance hinlegte. Den Hemdenkragen aufriss. Und wohlig zum Hellen schaute.

Er tankte Sonne, wo, wie und wann immer es ging - das konnte hinter den Scheiben seines Führerstands im Sechsertram sein. Auf der Toilette beim Pinkeln. Oder beim Sonntags-Schieber. Die Sonne löschte in ihm alles Rationale aus. Tauchte sie auf - tauchte er ein. Und hoffte - wie Solaranlagen-Unternehmer - auf gesunde Energie.

Sein Himmelswunsch war, den wilden Braunton des damals legendären Marlboro-Mannes aus der Werbung zu erreichen. Aber nichts da. Das Resultat war stets ein wüstes ROT! Nicht erdbeerig. Oder tomatig frisch. Nein. Nach seinen Sonnen-Momenten sah der alte Hammel aus wie ein gekochter Langustenschwanz. Oder eine zerknautschte Packung Roth-Händle Filter. ER KAM GANZ NACH SEINEN WOLLIGEN WANDERSOCKEN. Die erhoffte schokoladencremige Gesichtsbräune eines Terence Hill blieb ein Traum. Das Rote war ganz einfach in ihm - Braun gabs nicht.

Nun - mein Vater war in seiner Zeit nicht der einzige Sonnenanbeter. In Rimini grillierten die ersten Touris auf Liegestühlen. Sonnenbraun war das ZERTIFIKAT jener Zeit: «WIR HABEN UNS BESCHEINEN LASSEN!» Nur mit brauner Birne warst du dabei. Und in den Sonntagsschulen war «Die goldne Sonne» der meistgesungene Hit meines Jahrgangs.

Ich kann mich noch sehr genau an jenen Moment erinnern, als in unserer kleinen Wohnung das Elternschlafzimmer plötzlich in einem geheimnisvollen violetten Schimmer leuchtete. Der Geruch, der in die gute Stube strömte, geht mir nie mehr aus der Nase: ein Gemisch aus heissem Metall und verkohlten Würstchen.

Vater sass mit nacktem Oberkörper vor Mutters Frisierkommode. Wo sonst kleine, kristallene Parfümflacons das rosige Bubenherz höherschlagen liessen, war nun eine nüchterne, weisse Halbkugel auf einem harten Ständer. Sie versprühte Viola-Licht. Und summte energiegeladen einen ausserirdischen Jammerton.

Mein Vater hockte blau bestrahlt mit zwei seltsamen Kugeln, die an einer dünnen Gummischnur vor den Augen zusammengehalten wurden, vor dem Wunderapparat.

«SCHAU BLOSS NICHT INS BLAULICHT!», zog mich die Omama zeternd weg. «DA WIRST DU BLIND. ES REICHT, WENN BEI EINEM IN DER FAMILIE DER BOILER KOCHT!»

«Höhensonne», so nannte man in den 50er-Jahren diese Halbkugel, die mit ihrem Schein das Blaue vom Himmel versprach: den Teint von den Sommerferien auf Strandstuhl 53a in Catolica. Doch auch die Wunderlampe konnte Vater nicht bräunen. Zwar hatte er sich mit Schnellbrat-Ölen eingefettet wie ein Steak vor dem feurigen Grill-Moment. Doch bald schon stank es höllisch nach verbranntem Haar und aufgeworfener Haut. Als eine eingebaute Weckuhr die Erlösung brachte und Vater sich die schwarze Plastikbrille vom siedenden Apfel riss, da war da kein Terence Hill, sondern nur eine aufgeschwollene Rotfläche, aus der zwei weisse Augen wie gesottene Eier hervorstierten. «Jerum», rief die gute Gattin. «Ich hole die Brandsalbe!» «Wirf lieber den Hydranten an - so wie der lodert!», keifte die Omama.

ABER DENKT IHR, DER LIEBE PAPA HÄTTE ETWAS AUS DEM SONNENSCHEIN GELERNT! Nicht die Bohne. Bereits am nächsten Tag stank es wieder nach verbrannter Wurst. Der Wunsch, braun zu sein, war grösser als jede weisse Vernunft.

Jahre später konnten sich sonnenhungrige Menschen in Solarien wie einen Käseburger grillen lassen. Und wer nicht braungegrillt wie ein Klöpfer vom Rost herumlief, war out.

HEUTE REDET ALLES DAVON, DASS DIE STIMMUNG VIEL ZU BRAUN UND DAS KLIMA VIEL ZU HEISS SEI.

(Selbst das fromme Lied «Die goldne Sonne» wird nur noch selten angestimmt.)

Schon früh habe ich ein Schattenleben geführt. Vermutlich gingen mir so viele Sonnenmomente flöten. ABER AUCH PRALLE WEISSWÜRSTE HABEN IHREN REIZ.

Illustration: Rebekka Heeb

Montag, 23. Mai 2022