Süsse Weihnachten und die Eisbombe

Von Mailänderli aus der Gutzibüchse bis zu den Iles flottantes – die Feiertage sind ein Fest der Schleckmäuler

Süsses war Weihnachten. N U R WEIHNACHTEN. Ich meine das so: Wenn wir Kinder unter dem Jahr mal irgendeinen Colafrosch oder eine Zuckererdbeere reinsaugen wollten, da mussten wir das von unserm Sackgeld berappen.

Es ging bei diesem Prinzip weniger um Karies, Fettzellen oder um Gesundheit. Aber für die Generation meiner Eltern (sagen wir mal die Jahrgänge um 1920 und so) waren Schokolade, Caramels oder Brausetabletten, die auf der Zunge abgingen wie ein Staffel Mond­raketen, der absolute Luxus. LUXUS JEDOCH WAR NICHT FÜR KINDER.

Es sei denn, das Christkind würde diese wunderbaren Dinge bringen. Oder dann der Nikolaus. Doch bei dem warens meistens nur Erdnüsschen und Orangen. Über so etwas Fruchtiges ging die Freude nur halbherzig ab.

DAMIT WÄREN WIR AM ANFANG DER SACHE: SÜSSES WAR WEIHNACHTEN. UND WEIHNACHTEN SÜSS.

Ich kann mich nur noch vernebelt an unser Elternschlafzimmer mit der geblumten Bettumrandung, dem Frisiertisch (bei dem man Seitenspiegel wie Altarflügel öffnen konnte) und der «Toteninsel» über den schweren Kopfkissen erinnern – ABER DER KLEIDERKASTEN MIT DEN BLECHKISTEN HAT SICH SO KLAR IN MEINEN SOUVENIR-GANGLIEN EINGESTOCHEN, WIE DAS TOTENKOPF-TATTOO MEINER GROSSNICHTE KETTY AUF IHRER OBEREN SITZBACKENHÄLFTE.

Auf Weihnachten hin war die Küche ein Schlachtfeld. Schüsseln mit Nüssen, Datteln, Zucker standen herum. ES WURDE GEBACKEN – oder, wie es im Volksmund hiess «gutzelet».

Okay, die Auswahl war eher bescheiden. Jedenfalls nicht sehr innovativ. Die sechs Gutzi-Sorten basierten auf den alten Rezepten, die meine Mutter schon von ihrer Mutter übernommen hatte: Anisbrote, Mailänderli, Totenbeinchen, Zimtsterne, Dattelbrötli und Brunsli. Letztere waren meistens zu dünn ausgestochen (die baslerische Sparsamkeit!) und deshalb am Heiligen Abend steinbeinhart.

Während der ganzen Adventszeit lungerten wir im stets kühlen Elternschlafzimmer herum: Wir warfen sehnsüchtige Blicke nach den Blechdosen (die in Basel «Guuferekischte» genannt wurden) und die ganz oben auf den Schränken, weit weg von Kinderhand, platziert worden waren.

Wie lästige Fliegen wurden wir Kinder von den Grossen weggescheucht: «Zieht Leine! Und wehe, wenn einer auch nur e i n e s dieser Gutzi anfasst, kommt das Christkind nicht ... es sieht alles. ALLES!».

Ich meine, «WEHE – ihr bekommt keine Gutzi, wenn nicht ...» hatte zu jener Zeit dieselbe Drohwirkung wie heute «ich nehme dir den Joint weg» oder «ab morgen gibts nur noch 200 Franken Sackgeld».

ICH MALE DIES HIER NUR SO DRASTISCH, UM ZU ZEIGEN, WIE HEISSHUNGRIG WIR AUF DIE SÜSSE WEIHNACHT WAREN.

Nun setzte das Christkindlein aufs Süsse noch einen drauf: Es brachte nämlich auch Glace. DER ABSOLUTE EISZAUBER: D I E BOMBE!

Speiseeis gabs zu jener Zeit allerhöchstens beim Konditor. Oder als kleiner Ansporn, wenn man sich die Mandeln rausnehmen liess ... Ich kann mich erinnern wie «O du fröhliche» durch das Klingeln an der Haustüre unterbrochen wurde. Mutter spulte vom Baum weg. Der Gesang stürzte ab, wie eine abgeschossene Tontaube. Und schon jagten wir Kinder hinterher in die Küche, um zuzuschauen, wie «die Herren» (so nannte man die Konditoren) einen wunderbaren Rokoko-Rock aus einem Lederkoffer schälten.

Der Lederkoffer war mit Eisklötzen ausgelegt. Und der weite Glace-Rock musste mit Rahmtupfern und Silber­kügelchen noch fertig ausgarniert werden. Schliesslich steckte der Chef eine Porzellanbüste, die er vorher mit heissem Wasser erhitzt hatte, in die Köstlichkeit – und fertig war die Pompadour: eine elegante Rokoko-Dame aus Vanille- und Erdbeereis.

Ich hätte die wunderbare Glace-Person mit ihrer eleganten Porzellanfrisur und dem festlichen Rahm-Eis-Rock stundenlang betrachten können. Aber nun wurde die ganze Sache noch einmal mit Eisklötzen umschichtet. Und mit tausend Mahnungen («Nicht länger als zwei Stunden ... sonst ist der Rock ein weicher Lappen») machten sich die Glacebomben-Männer auf dem Weg zum nächsten Weihnachtshaus.

So wurden nun «O du fröhliche» und «Ihr Kinderlein kommet» auf der Schnellspur runtergespult. Das Schüfeli lag gottlob bereits fixfertig gekocht auf den Bohnen. UND DANN KAM DER GROSSE EISBOMBEN-MOMENT – DER SÜSSTRAUM, AUF DEN WIR EIN JAHR LANG GEWARTET HATTEN: Vater schnitt mit einem grossen Messer, das er in einen Milchkrug mit heissem Wasser eingetaucht hatte, den rosigen Glace-Fummel an.

Mutter hatte alle ihre Gutzi-Köstlichkeiten auf Tellern verteilt.

Bitte: D A S war damals Weinachten. D A S – und die Tafel Frigor-Schokolade, die bei jedem Kind auf der Ser­viette lag.

Wie die Pompadour gehörten auch die Iles flottantes zum Festessen. Sie kamen auf dem gelben Vanille-See allerdings auch an Geburtstagen oder Verlobungsfeiern angeschwommen – an Weihnachten aber garnierte Mutter die kleinen Eisschnee-Inseln mit Goldstaub und Zuckerblumen aus. So wurde auch dieses Dessert zu einem Wunder aus einer verzauberten Weihnachts­galaxis.

Natürlich änderte sich dies alles in den üppigeren 60er-Jahren.

Tante Gertrude stockte mir das Sackgeld auf, sodass auch unter dem Jahr süsse Weihnacht war.

Mutter wiederum liess es jetzt nicht nur bei der «Pompadour» bewenden, sondern motzte die Dessert-Auswahl mit Fruchtsalat, Büchsenananas mit Kirsch und Crème brûlée auf.

Zucker, Butter, Eier waren nicht mehr rationierte Mangelware – deshalb wurde hier mit der grossen Kelle angerichtet. In Mutters Iles flottantes dotterten gut 20 Eier und wurde mindestens ein Liter Schlagrahm darunter gerührt – vom Zucker ganz zu schweigen. Ich ­vermute, sie beschäftigte drei Zuckermühlen unseres Landes. Bald schon kamen auch die grossen Erneuerungen über den grossen Teich: etwa der erste grosse SIBIR-Eiskasten – ein amerikanisches Modell mit Gefrierfach. WAHNSINN! Und dann der Turmix – ein Mixer mit dem Mutter ihr allererstes Mandarinensorbet zauberte: Wir Kinder mussten die Paterno-Mandarinchen mit Würfelzucker abreiben, so dass die ätherischen Öle am Zucker haften blieben. Zucker und Saft wurden gemixt. Und im Eisfach, in ausgehölten Mandarinen gefroren – die Mandarines givrées waren damals in den Basler Häusern ein sehr beliebtes Weihnachts-Dessert. Das Ganze gab optisch etwas her – und konnte zwei, drei Tage vor dem Fest einfach im Tiefkühler aufbewahrt werden.

Auch die Gutzi-Palette wurde immer üppiger. Bunter. Exotischer.

Dann kamen die Kokossplitter ins Rennen – kandierter Ingwer, Mango im Sirup, getrocknete Papaya.

An ihrer letzten Weihnacht trumpfte Mutter mit über 20 Gutzisorten auf. Allerdings gabs die Blechkisten schon lange nicht mehr. Gebacken wurde bereits vor dem Advent und alles in der riesigen Tiefkühltruhe gelagert – in dieser Truhe, wo auch der Rock der Pompadour drei Tage vor dem Heiligen Abend eingebettet wurde. Die Herren störten nicht mehr beim Weihnachtsliederabsingen. Sie durften mit ihren Grosskindern endlich auch vor dem Baum sitzen. Und von dieser Zeit erzählen, als sie noch mit den Lederkoffern von Haus zu Haus gezogen waren, um Weihnachten zu einem ganz speziellen, süssen Fest zu machen ...

Rezept

Iles flottantes

Freitag, 18. Dezember 2015