Von Bettsocken und dem jüngsten Fotomodell...

Illustration: Rebekka Heeb

Meine Kinderzeit verlief krisenfrei. Seuchenfrei. Panikfrei.

Ich meine: Normalo-Welt.

Die Frauen der Vaterseite strickten.

Irgendwie gehörten die tickernden Nadeln zu ihnen wie der hausgebackene Zopf am Sonntag.

Die Kembserweg-Omi klapperte ihr Nadelspiel auf dem Sofa. Ihre Finger wuselten über die Maschen. Sie zählte laut vor sich hin.

Und: «Wie soll sich da einer auf die Börse konzentrieren!», knurrte Carlotta am Tisch. Meine Mutter hockte vor riesigen Papierbögen. Mit einem Rotstift kreiste sie Zahlen ein. Und trieb ihr Aktien-Monopoly.

Carlottas Freundinnen reizten beim Bridge - meine Mutter reizte so etwas wenig. Sie wollte abkassieren.

«Strickerei» tat sie jeweils verächtlich als «Weiberzeugs!» ab. Dennoch umarmte sie höflich die Schwiegermutter, wenn die Omi ihr auf den Geburtstag hin Bettsocken in Geschenkpapier eingewickelt hatte: «Es gibt nichts Wärmeres für deine Füsse Lotti - zwei links, zwei rechts!»

Es waren immer drei Paar -mit «zwei links, zwei rechts» war die Strickart gemeint.

DIE BETTSOCKEN KAMEN IM AUGUST - OFT AN DEN HEISSESTEN HUNDSTAGEN. MUTTERS GEBURT STAND IM ZEICHEN DER LÖWIN. WARME STRICKSOCKEN LAGEN SAISONAL ÄHNLICH DANEBEN WIE MAIGLÖCKCHEN IM NOVEMBER.

Carlotta legte also das Geschenk zu den Dingen, die sie für den Missionsbasar sammelte. Und murmelte Jahr für Jahr: «Das wäre wirklich nicht nötig gewesen, Anni...»

Für mich hatte die strickende Omi etwas Gemütliches.

WIE GESAGT: HEILE WELT, IRGENDWIE.

Manchmal durfte ich die Arme auseinanderhalten. Die Omi hing die Strickwolle um meine Handgelenke. Dann rollte sie den Faden zu einem Knäuel auf.

Mutter schaute kopfschüttelnd zu: «Die Strickerei war mir schon in der Handarbeit ein Dorn im Auge. Meine Socken kamen schief von den Nadeln. Sie waren eher für einen krummbeinigen Dackel gedacht. Meine Tanten haben mich dann mit einem sogenannten Fleissknäuel zum Stricken animieren wollen. Alle fünf Meter Wollgarn war eine kleine Überraschung angehängt...»

UND?

Ich wartete gespannt auf die Fortsetzung.

Carlotta lachte: «Ich habe die Überraschungen herausgefischt. Und an meine Freundinnen verkauft...»

Ihr Schicksalsfaden lief schon damals in Richtung Geschäftsfrau.

Die Kembserweg-Omi war stolz auf den kleinen Enkel.

Also bestrickte sie den schönen Jungen von Kopf bis Fuss.

Zusammen gingen wir zu Fräulein Munz. Das ältere, schief gewachsene Fräulein mit den blauen Augen, so winzig wie Stecknadelköpfe, betrieb einen Laden, den sie Wollenfee nannte.

Fräulein Munz hatte nichts Feenhaftes - aber Wolle in Hülle und Fülle.

Die beiden Frauen blätterten in Strickheftchen. Sie diskutierten über Modelle, Farben und Nadeldicke. So wurde ich rundum eingestrickt: vom Kniehöschen, über den Regenbogenpullover bis zur passenden Mütze mit Shawl und Handschuhen.

Eines Tages strahlten die Stecknadelkopf-Äuglein: «Der Regenbogenpullover mit dem himmelblauen Strickhöschen wären etwas für unser Heft «BESTRICKEND SCHÖN». Könnte der Bub Modell stehen? Wir bezahlen ihn mit Wolle.

So erlebte ich mein erstes Foto-Shooting bereits im zarten Alter von sechs Jahren.

Der Fotograf drapierte mich vor einer Leinwand, die eine Blumenwiese mit drei Lämmchen zeigte.

Ich musste mich vor die Lämmchen stellen. Und lächeln...

DAS SCHÖNE KIND KLIMPERTE MIT DEN WIMPERN. WIPPTE AUF DEN LACKSCHÜHLEIN HIN UND HER. UND LECKTE SICH DIE LIPPEN - da rief der Knipser genervt zur Omi: «Himmel - stoppen Sie ihn. Das ist ja eine Hammer-Schwuchtel!»

Die Omi, welche nicht recht wusste, was das heutige Unwort bedeutete, nickte freudig: «Schon sein Vater ist eine Pracht - kennen Sie den Trämler-Hans vom Sechser?»

Zu Hause habe ich dann beim Nachtessen alles genau rapportiert und endete den Bericht stolz mit: «Der liebe Mann mit seinem grossen Apparat hat gesagt, ich sei eine Hammer-Schwuchtel...»

Mein Vater knöpfte sich daraufhin das arme Fräulein Munz vor. Ihre winzigen Äuglein waren jetzt vor Schreck tellergross: «Das hat der sicher nicht so gemeint!»

«MEIN SOHN KOMMT NICHT ALS WIPPENDER REGEN BOGEN IN EINEM STRICKHEFTCHEN, FRAU WOLLENFEE!», tobte mein Alter.

«Wollvertrag ist Wollvertrag», keifte das schiefe Fräulein jetzt genervt zurück.

Damals habe ich erstmals kapiert, was der Ausdruck «sich in die Wolle kriegen» bedeutet.

Natürlich erschien das Heft dann doch mit dem bestrickend bestrickten Buben.

Es war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich am Kiosk als Titelblatt aushing.

Viele Jahrzehnte später, als aus dem wunderbaren Regen bogenkind ein buntes Nilpferd wurde, überraschte ich meine Mutter, wie sie in ihrem Lesesessel hockte. Und strickte.

Sie schaute zu mir auf: «Irgendwie habe ich deine Jugend verpasst Ich war zu stark mit mir selber und meinem Geld beschäftigt. Da habe ich mir gesagt: Strick ihm endlich einen Pullover! Dass er etwas Bleibendes von dir hat...!»

Sie hielt einen dunkelblauen, engmaschigen Wollfetzen an mich: «Gefällt dir die Farbe?».

Er war schräg abfallend.

Und: «Das wäre wirklich nicht nötig gewesen», grinste ich.

DREI TAGE SPÄTER HAT MAN CARLOTTA INS SPITAL GEBRACHT. SIE WACHTE AUS IHREM KOMA NIE MEHR AUF.

Als wir nach ihrem Tod das Zimmer räumten, lag der angefangene Pullover auf dem Stuhl.

Ich zog die Nadeln heraus.

Und wand die Wolle auf.

Dienstag, 10. März 2020