Vom bissigen Lenchen an Weihnachten

Illustration: Rebekka Heeb

Niemand mochte Lenchen. Vor allem mochte sie sich selber nicht. Entsprechend hühnerte sie stets wie ein drohendes Gewitter herum. Und vermieste uns mit ihren schwarzen Gedanken die sonnigsten Tage.

Lenchen war «das Tantchen». Oder genauer: die Cousine von Mutters Seite. Das Tantchen hatte viel Geld. Und nie gearbeitet. Jeder hatte andere Träume, was er mit Tantchens Geld machen würde - nun ja, wenn er es nur erst hätte. Mein Vater träumte von einer Marokko-Reise. Und wie er dort mit Lenchens Pulver das Atlas-Gebirge und die Weiber aufmischen würde. Viele Jahre später konnte er sich diese Reise wirklich gönnen. Allerdings nur durch eine gross zügige Spende aus Mutters Börsengewinn. Tatsächlich hat er das Atlasgebirge aufgemischt - die Frauen aber blieben ihm verschleiert fern.

Lenchen war sozusagen im Honig geboren. Mein Gross onkel machte in Stoffen - die Stoffe waren wunderbar. Die Machenschaften des Gross onkels weniger. Jedenfalls: Die guten Menschen der Konzernverantwortungsinitiative hätten gepfiffen. Lenchen kümmerte das nicht. Sie war reich. Sie war kalt wie ein Magnum-Eis. Aber sie war nicht so süss wie Letzteres.

Nun - Geld macht blind. Zumindest die Freier. Sie standen standhaft an. Und es kursierte der saudumme Spruch: «Wenn einer bei Lenchen an die Türe klopft - dann kann es nur mit einem weissen Stock sein!» WIRKLICH SAUDOOF! Vier der Freier habe Reissaus genommen, zwei Mal wurde sie vor dem Altar stehen gelassen - und derjenige, der schliesslich bis zum Ja-Wort durch gehalten hatte, starb sechs Monate nach der Trauung an einer Überdosis. Fragt mich nicht: w a s für eine Überdosis.

Später, als ich die ganze Lenchen-Geschichte in ihren einzelnen Puzzleteilchen zusammensetzen konnte, dauerte mich «Tantchen». Erst jetzt konnte ich ihre Kratz bürstigkeit verstehen. Das Leben hatte sie enttäuscht - und sie enttäuschte die Menschen. Statt den Honigtopf zu geniessen, setzte sie einen sauren Stein auf. Kaute Magentabletten. Und ernährte sich von Schlangengurken an Sauermilch.

Dennoch - an Weihnachten wurde Lenchen zu unserm Baum gerufen. Sie war Familie. Da kannte die Sippe kein Pardon. Vor den Augen des Weltenretters waren alle gleich - UND ALLE MUSSTEN AN DEN BAUM!

Natürlich wurde Mutter bombardiert: «Wehe, wenn du mich neben Tantchen setzt ... dann bringe ich den Vers von der Frau Wirtin und dem Mulatten gleich nach Stille Nacht.» Das war Onkel Alphonse. «Ich dröhne mich mit Cannabis zu, wenn diese Pest in meine Nähe kommt!», drohte Vetter Max. Er war das schräge Rad an der Familienkarre. ALSO MUSSTE MUTTER LENCHEN STETS NEBEN SICH UND DEN SCHWER HÖRIGEN HUBERT SETZEN.

Es war an jenem Heiligen Abend, wo alle schon am traditionellen Schüfeli auf Bohnen sassen, als Irmtrud (die Nichte der Kembsweg-Omi) unverzeihlich verspätet, aber mit einem kleinen Hund unter dem Arm ins Esszimmer platzte und atemlos keuchte: «Tschuldigung... aber die wollten diesen Hund ein schläfern... die Frau, bei der er zu Hause war, ist tot. Und da habe ich ihn einfach mit genommen...»

Mutter: «Hat er Flöhe?» Vater: «War sonst nichts zu holen...?» Onkel Alphonse: «Kennt ihr den vom Hund und der Nonne...?» Und plötzlich hörte man in all der Aufregung die immer etwas zu hohe Stimme von Lenchen: «Gebt dem Bastard Wasser... und etwas von diesem Schüfeli... aber wascht es vorher ab. Es ist viel zu stark gesalzen!» Sofort rannte alles herum. Schleppte Schalen mit Wasser an (Mutter: «Aber doch nicht das Meissen, Flora!»). Und schnipselte rosiges Schüfeli in Streifen, nicht ohne diese vorher fade gelutscht zu haben...

Der kleine Hund schaute dem Treiben höchst interessiert zu. Dann gähnte er. Hopste Irmtrud vom Schoss. Und wedelte vor Tantchens Knien. «Na, dann komm mal, du Rübe!», lächelte Lenchen. Drückte den Hund an sich. Und «die Rübe» leckte ihr die spitze Nase. Wie durch einen Zauber veränderten sich Tantchens Gesichtszüge: Die Konturen wurden weicher, die Augen schauten liebevoll, der Mund zitterte zart. Ja, Lenchen war plötzlich fast so schön wie unsere Krippen-Maria, die statt des Hundes den kleinen Herr Jesus am Herzen hielt...

Das Tantchen lebte fortan mit «der Rübe» in der grossen Villa auf dem Hügel der Stadt. Als sie starb, redeten die Leute nur von der «fröhlichen Frau mit dem kleinen Bastard».

P.S. Der uralte Hund wurde übrigens Irmtrud vererbt. Samt Lenchens Pulver. Irmtrud wiederum rief in Dankbarkeit und Gedenken an Lenchen eine Stiftung «für verlassene Bräute» ins Leben. UND DA SOLL NOCH JEMAND BEHAUPTEN, WEIHNACHTEN SEI NICHT VOLLER WUNDER...

Illustration: Rebekka Heeb

Dienstag, 15. Dezember 2020