Enzian

Hier zum Nachhören: 

„Das Kind hat doch einen Knall!“ – meine Grossmutter schaute giftig zu ihrer Tochter. „Der ist falschrum gewickelt...“

„Das Kind“ stierte derweil gebannt zur alten Dame. Es war von der Mutterseite - die vornehme also. Und mein Vater hat seine „Schwiegerschwarte“ (wie er sie boshaft nannte“) in seiner Verwandtschaft immer so herumgeboten: „Dort, wo andere Menschen Gefühle haben, steckt hier ein Tiefkühlfach...“
Die „Grandmaman“, wie wir sie nennen mussten, kam aus einem sogenannten „besseren Stall“. Sie war mit Kinderfrauen und auf Bettwäsche, in dessen Ecken das Monogramm der Familie gestickt war, gross geworden.
Mein Urgrossvater war Major im Stab. Aber zu Hause bliesen ihm die Weiber den Marsch. Und da bei seiner Tochter zum seelischen Tiefkühlfach noch so viel Charme wie eine Leichenhalle hinzukam, lief die Grandmamman schon als junge Tochter nicht unter „zarter Engel“. Sondern als „bissige Natter“.

Allerdings – die Natter war stinkreich. Also buckelten alle. Selbst mein Vater, ein herum brüllender Sozialist , verstummte bei ihrem Auftritt. Und flötete: „Meine liebe Lydia“ – „Lydia“, weil sie es sich verbat, dass „so ein roter Hund“ sie „Schwiegermamma“ rufen sollte.

Wenn die Grandmamman nach ihrem Monatsbesuch jeweils unser Haus verliess, fand mein Vater seine Sprache sofort wieder. Er brüllte: „ALLE FENSTER AUF! HIER STINKTS NACH PECH UND SCHWEFEL...“

Da die Grandmaman immer in den Nobelkästen dieser Welt abstieg („alles Kapitalistenkisten für reiche Wichser!“, so der O-Ton meines Vaters), fand sie unser kleines Berg-Chalet einen schlechten Witz. Sie liess sich von ihrem Chauffeur Ernest im trauerschwarzen Buick vorfahren. Bei ihrem Auftritt strömte jeweils der ganze Strubelweg zusammen: ein Hut mit falschen Kirschen… grellgrüne Sommerhandschuhe aus feinstem Leder und ebenso erbsenfarbige Pumps mit derart spitzen Absätzen, dass sie sofort wie ein angeschossenes Kriegsschiff im Acker vor dem Haus einsank.
Ernest musste die keifende Chefin wie der Korken aus dem Schnaps herausziehen.

Das Mettler Käthi kratzte sich an seiner Warze. Und schüttelte missbilligend den Kopf:“ Die hat doch einen Knall...“
Aber eben: den Knall hatte ich. Und meine Grossmutter liess von Ernest das Geschenk, das ich ihr zum Geburtstag gekauft hatte ins Auto tragen: Eine Enzianbrosche.

Enzianbroschen waren damals mein Höchstes. Sie lagen auf schwarzen Samt in verschiedenen Dorfläden im Angebot. Es waren hölzerne, handgeschnitzte Kunstwerke, die nur noch von den filigraner gearbeiteten Edelweiss übertroffen wurden.
Aber Edelweiss waren zu teuer. Schon für das Enzian hatte ich bei Mettlers Käthi stundenlang im Kiosk Kisten buckeln und Pakete austragen müssen.

„Es wird ihr nicht gefallen...“, hatte meine Mutter mich vorgewarnt. „Mach ihr eine schöne Zeichnung...“

„Male sie mit einem Klumpfuss und zwei Hörnern am Hut...“ flüsterte mein Vater.

Aber ich war nun mal so wie ich bin. Und wollte das Enzian. Die alte Dame warf einen Blick darauf. Ihre Augen wurden schmal: „SO EIN GRÄSSLICHER KITSCH!“

In meinem Innern zerbrach etwas. Ich heulte, wie nach hundert Louise Rinser Filmen.
Als die Grandmamman diese Welt verliess, wurde ich zur Testament-Eröffnung gerufen. Geld war keines mehr da. Der Satansbraten hatte über seine Verhältnisse gelebt.
Der Notar überreichte mir dann ein Päckchen auf dem mit wackliger Schrift mein Name stand. Drin steckte die Enzianbrosche. Und ein kleiner Papierfetzen: „Es tut mir leid...“

Da habe ich mit ihr meinen Frieden geschlossen.

Veröffentlicht am : 
Freitag, 2. Oktober 2020