Telefon-Sex

Hier zum Nachhören: 

Dolly machte Sudoku. Und nervte sich, weil die Sache nicht aufging.
Dolly trug einen Telefon-Kopfhörer.
Überdies: Eine bequeme Trainer-Hose. Dazu ein T-Shirt mit Minnie Mouse.
Und natürlich hiess sie nicht Dolly. Sondern Lilli Lauber.

Lilli verdiente sich ihr Geld mit Telefon-Sex.

Vorher hatte sie als junge Telefonistin auf der Zentrale der Universität gearbeitet. Nichts Aufregendes. Und zu wenig für Lillis grossen Traum: ein Chalet am Thunersee.

Lilli musste sich etwas einfallen lassen.

Wolfi hatte sie dann auf die Idee gebracht: «Du brauchst eine Nummer… du brauchst ein Inserat… und schon geht die Post ab…»
Er lachte dann: «So schaffst du das Ferienhaus in vier Jahren. Dann kannst du immer noch auf die Uni-Zentrale zurück… oder heiraten. Und Kinder kriegen»
«ICH WILL DAS CHALET – UND BESTIMMT KEINE KINDER!»

Im Inserat stand: «MOLLIGE DOLLY – VOLL VERSAUT!»

«Du musst die Kunden möglichst lange am Apparat halten…» hatte Wolfi ihr eingebläut.

Lilli erinnerte sich immer wieder an den ersten Anruf:
«ICH BIN DIE DOLLY…»
Ein Keuchen. Ein Stöhnen. Und «Ouhhhh»
Dann war aufgehängt.
Grusslos.

Mit der Zeit wurde Dolly raffinierter.
Sie plauderte zuerst über das Wetter. Und hielt die Männer an der Strippe.
Einige wollten gar nie mehr aufhängen.
Sie labberten Dollys Ohren mit ihren Eheproblemen voll.

Bald wusste Lilli mehr über das Leben als nach sechs Jahren Universität.

ES WAR AN EINEM FRÜHLINGSTAG, ALS SICH EINE KINDERSTIMME MELDETE.
Dolly liess vor Schreck das Bleistift fallen: «…wer bist du?»
«Der Fabi. Ich bin alleine daheim… Die Nummer liegt neben Papis Telefon. Bist du Tante Dolly? Da steht nämlich Dolly…»

«Ja, ich bin die Tante Dolly. Was machst du denn?»

«Ich muss einen Aufsatz schreiben. Volldoof.
Über den Frühling…»

Lilli lachte: «Schliesse die Augen… ich beschreibe Dir jetzt den Frühling am See. Du liegst in einer Wiese. Die Kühe dürfen erstmals aus dem Stall… die Bäuerin wischt den Vorplatz zum Hof…»

«Hee geil – ich brauche nur eine Seite!»

Fabi rief nun fast täglich an.
Er liess sich bei den Hausaufgaben helfen. Redete über seine tote Mutter. Wie er sie vermisse.
Dann: «Tante Dolly – hab´ dich fest lieb».

EINES TAGES LEUCHTETE FABIS NUMMER AUF – doch da tobte eine wütende Stimme: «Lass meinen Sohn in Ruhe, du Schlampe… meine Telefonrechnung über deine Nummer kam auf 990 Franken. Fabi wird nie mehr anrufen!»

«Grüsse ihn von mir», sagte Dolly leise. Und nahm den Kopfhörer ab.

Fünf Jahre danach kaufte sie das Chalet am Thunersee.
Sie ging an die Universität zurück. Heiratete später einen Internet-Spezialisten.
Und hatte vier Kinder mit ihm.

Manchmal dachte sie an Fabi.
Und lächelte traurig.

Veröffentlicht am : 
Freitag, 16. Oktober 2020