Bildgeschichte: Die grosse Lüge der Maske

Der «Schlüssel» dampfte.

Auf der legendären Stääge gabs kein Rauf- und Runterkommen mehr. Die Fasnächtler lachten laut. Riefen nach Wysse oder Bier. Und die Kellner ­balancierten Tabletts mit Hotburgers oder Schinkensandwiches durchs Gedränge.

Es war der letzte Fasnachtstag – ­Mittwoch. Und die Stimmung widerspiegelte das verzweifelte Hoch vor dem grossen Tief.

An einem der kleinen Tischchen gegenüber dem Eingang zur Wirtsstube sass Otti. Es war sein Fasnachtsstammplatz. Und als passionierter Maler liebte es der pensionierte Zeichenlehrer, die ­einzelnen mannigfaltigen und bunten Szenen im «Schlüssel» mit seinem Kohlen­stift zu skizzieren.

Dieses Jahr schien es jedoch nur ein Sujet zu geben: Salieri. Seit Miles ­Forman in seinem Mozart-Film den Nebenbuhler von Amadeus in diesem gespenstisch-prächtigen Kostüm auftauchen liess, wollten Basels Trommelhunde und Pfeiferprimadonnen alle auch als Salieri herumgeistern.

Otti seufzte auf: «Wo ist da der Witz? Der Biss? Das ist doch einfach nur affig-schön.»

Der Alte schüttelte den Kopf – nein, das war nicht mehr seine Fasnacht. Alles veränderte sich. Alles war im Fluss. Aber wo trieb dieser Fluss hin?

Ein junger Mann drückte sich nun durch die Kostümierten. Er trug einen dunklen Wollmantel – und einen roten Schal. Kein Fasnächtler also – obwohl man da bei der heutigen Art von Sujets auch nie sicher sein konnte.

Otti beobachtete den jungen Mann etwas irritiert. Er kam ihm bekannt vor. Irgendwie. Sicher aber hatte er ihn schon mal gesehen.

«Ist da noch frei?», fragte der Zivilist den alten Lehrer in einem gebrochenen Deutsch. Und zeigte auf den Stuhl neben Otti.

«Aber sicher», nickte der, «wenn du nicht gerade an Klaustrophobie leidest.»

Der junge Mann wirkte abwesend. Schaute immer wieder auf die vene­zianischen Masken. Und murmelte: «Strange … so strange …»

«Waaas?» – hielt Otti die Hand an sein Ohr.

«Das ist hier alles so seltsam», lächelte der Fremde.

«Ja klar – das ist unsere Fasnacht!», nickte Otti stolz.

«Aber die venezianischen Masken hier?»

«Die sind alle vom Mozart-Film-Virus angesteckt», tat Otti das Sujet verächtlich ab, «also mit der Fasnacht hat das nichts zu tun.»

James lächelte: «Ich habe hier aber eine Fasnachtsball-Skizze aus den späten 30er-Jahren in meiner Mappe. Mein Grossvater hat sie mir vor seinem Tod gegeben. Er ist auf der Zeichnung vor einem Spiegel gemalt worden. Und er trägt an jenem Kostümball genau so eine Maske wie sie hier jetzt an der ­Fasnacht alle tragen … zwei Tage später hat er Basel verlassen. Für immer. Er hat seine Liebe und sein Geheimnis hier zurückgelassen.»

In diesem Moment schaute Otti den Mann etwas genauer an: Venedig…? Maske…? Da war doch der venezianische Ball bei den Vischers gewesen. Er war als Schulfreund von Hans eingeladen … und, ja natürlich … der Junge war Hans aus dem Gesicht geschnitten. «Hans Vischer», flüsterte er.

Sein Gegenüber schaute elektrisiert auf: «Sie kannten ihn? Sie kannten ­meinen Grossvater?»

«Haben Sie die Zeichnung zufällig da?» Otti schaute gebannt auf den jungen Amerikaner: «Wir gingen in dieselbe Schule, ‹uff Burg› – so sagten die Basler damals dem Humanistischen Gym­nasium. Hans Vischer war unser ­Primus – und der beste Freund von Ernest Dubois. Die beiden waren unzertrennlich.»

Der Mann lächelte traurig: «Ich weiss…mein Grossvater hat mir alles erzählt …er ist vor einem Monat an Krebs gestorben … darf ich mich vorstellen: James Vischer.»

Er steckte ihm ein Visitenkärtchen zu.

«The Dream» – las Otti. «Hotel und Spa – San Francisco. James Vischer – CEO.»

Dann öffnete der junge Mann seine Ledermappe. Und fischte ein Stück ­vergilbtes Papier hervor: «Das hier ist die Skizze.»

Otti nahm die Zeichnung vorsichtig in seine Hände. Ein wehmütiges Lächeln überschattete sein Gesicht: «Ja, das ist die Skizze. Meine Skizze ...»

Schliesslich schaute der Maler den Enkel von Vischer durchdringend an: «Was ist an diesem venezianischen Ball passiert? Weshalb ist Hans danach verschwunden?»

Im Spiegel

Die Krankenschwester im grossen Anwesen ausserhalb von San Francisco schickte dem ausgemergelten Hausherrn ein professionell aufmunterndes Lächeln zu: «Aber nicht überanstrengen, Herr Vischer.»

Und dann zu dessen Enkel: «Machen Sie nicht länger als 15 Miuten, bitte.»

«Dumme Kuh», brummte der Alte im Bett. Dann rief er seinen Enkel nahe zu sich. «Du weist, dass du mir immer besonders nahe gestanden bist, James. Ich möchte dir deshalb eine Geschichte erzählen, die ich bis jetzt mit mir herumgetragen und damals aus Basel nach San Francisco mitgebracht habe. Ich will nicht mit dieser grossen Lüge von dieser Welt gehen. Deshalb sollst du alles erfahren.»

Der Patient fischte aus einem Buch eine alte Zeichnung hervor. Sie zeigte eine venezianische Ballszene: einen jungen Mann, der sich mit seiner Commedia-dell’Arte-Maske im Spiegel betrachtet – im Hintergrund steht eine Matrone, die als Venezianerin verkleidet ist und den Jungen nicht aus den Augen lässt. Und am Rande der aquarellierten Skizze führt ein Clown seine Mutter an der Hand.

«Ich habe die Zeichnung noch nie jemandem gezeigt», flüsterte Hans. «Der Clown war Ernest ...»

Mehr als gute Freunde

Der Vischer-Kostümball war einer der Höhepunkte der Basler Vorfasnacht. Dieses Jahr war «Venedig» als Sujet angesagt. Und Hans hatte seine Mutter bekniet, Ernest dazu einzuladen.

Sie hatte ihn seltsam gemustert: «Was hast du nur mit diesem Ernest?»

Sie waren Freunde. Gute Freunde. Nicht nur auf der Schulbank.

Ernest kam aus einfachen Verhältnissen. Seine Mutter rackerte sich in einer Chemiebude ab, um ihrem Sohn das Humanistische Gymnasium zu ermöglichen. Und Hans hatte sich gleich zu Ernest hingezogen gefühlt, hatte ihn gegen die Sticheleien der anderen Schüler verteidigt («Syt wenn kunnt dr Plebs in d Mugge?») – bald einmal war es mehr als Freundschaft.

Natürlich konnten sie über ihre Gefühle zueinander nicht reden. Das war einfach unmöglich. Zwar gaben sich die Basler aufgeschlossen – besonders der Daig. Aber es war nochmals anders, wenn das «Anderssein» die eigenen Reihen betraf.

Manchmal schmiedeten die beiden Pläne. «Wir werden gemeinsam ein Hotel bauen. ‹Der Traum›, so soll es ­heissen – so wird unser Traum wahr werden», so hatte Ernest die Zukunft gesponnen.

Sie schafften die Matur. Und schrieben sich für das Studium der National-Ökonomie ein. Auch jetzt sassen sie wieder zusammen auf der Studienbank.

Einige Kommilitonen schossen scharfe Sprüche ab. Die beiden kümmerte es nicht – erst als Hans von seiner Mutter zur Rede gestellt wurde («Die Leute reden offenbar über eure seltsame Freundschaft.»), leugnete Hans erstmals seine Gefühle.

«Dann ist es gut», lächelte die Mutter, «ich habe nämlich für den Kostümball Nelly eingeladen. Die Familie denkt auch, sie sei die Richtige für dich…»

Weg, weg von allem

Der Patient schaute seinen Enkel nun mit fiebrigen Augen an: «Es war eine Katastrophe. Ich fühlte mich so elend –vor allem weil ich Ernest verleugnet hatte. Immerhin hatte ich durchgesetzt, dass er mit seiner Mutter zum Ball eingeladen wurde.»

Ein Hustenanfall unterbrach Hans. Schliesslich erzählte er leise weiter: «Meine Mutter hat Ernest dann Nelly vorgestellt – sie sei meine Verlobte und künftige Frau. Ich werde nie mehr sein Gesicht vergessen – seine Clown-Augen schauten zu mir. Und es stand der ganze Schmerz dieser Welt darin. Ich aber entdeckte im grossen Salonspiegel meine eigene Maske. Und ich wusste, dass ich es nicht ertragen könnte, ­weiter stets eine Maske zu tragen. Ich musste mich befreien – befreien von einer unmöglichen Liebe. Und von ­meiner Familie.»

Wieder hustete Hans: «Ich kratzte all mein Geld zusammen. Und ging weg. Weg von allem. Weg von Ernest. Ich hinterliess keine Nachricht. Ich war einfach verschwunden – kein Mensch hat je die Wahrheit erfahren. Bis jetzt …»

Der Enkel spürte, wie es ihm den Hals zuschnürte. Er streichelte seinem Grossvater die Hand: «Und dann?»

«Ich habe auf die Freiheit von Amerika gehofft. Auf San Francisco, das zu jener Zeit als sehr offen galt. Bald aber merkte ich, dass dies alles nur Kulisse und Maskerade war. Die Leute gaben sich weltoffen-grosszügig – aber hinter all den Gesichtern war das alte Vor­urteil einbetoniert. Und ich wurde ein Leben lang der Venezianer, der sich hinter der Maske verbarg.»

Sein Enkel unterbrach ihn: «Aber du hast doch geheiratet und …»

«... Es war keine schlechte Ehe. Deine Grossmutter war eine wunderbare Frau. Mit ihr habe ich die Hotelkette aufgebaut – dieses Projekt, das die Erfüllung von Ernests und meinem Traum hätte werden sollen. Deine Grossmutter spürte, dass ich nicht glücklich war. Sie drängte mich immer wieder, ihr den Grund für meine ­Traurigkeit zu erzählen. Aber ich brachte es nicht über mich. Ich lebte mit der Lüge und der Maske weiter.»

Das Ende der Geschichte

Drei Tage nach dem Gespräch mit seinem Enkel starb Hans Vischer.

James schaute zu Otto: «Ich kam hierher, um das Ende der Geschichte zu erfahren. Ich habe nach Ernest Dubois geforscht – und nur eine Todesurkunde bekommen. Er starb als Jüngling, zwei Jahre nachdem mein Vater von Basel weggegangen war.»

Otti nickte: «Er ist vom Wasserturm gesprungen.»

Nun stierte der alte Maler ins Leere: «Irgendwie haben wir alle versagt. ­Lehrer. Schüler. Freunde. Wir hätten mit den beiden reden müssen. Aber die Zeiten waren damals eben anders.»

«Und heute? Ist es nicht noch genau wie früher?», fragte James leise.

Otti schaute ihn an: «Vielleicht. Vielleicht nicht? Vieles scheint besser geworden zu sein – aber vieles der Menschen ist eben auch nach der Fasnacht hinter einer Maske versteckt. Die Wahrheit hat es immer schwer gehabt.»

James stand auf. Und reichte Otti die Hand: «Ich bin froh, Sie hier getroffen zu haben … in zwei Stunden geht mein Zug nach Kloten.»

Ganz langsam erlosch sein roter Schal draussen in der dunklen Nacht.

Es war knapp vier Uhr morgens. Es war das kochende Finale von 72 Stunden, während denen sich die Menschen so geben konnten, wie sie waren.

Die Maske schützt jeden.

Aber nach der letzten Daagwach kommt wieder das andere Gesicht.

Und das Grau des Alltags.

Samstag, 8. März 2014