Johann Wanner: Engelshaar und Lametta, aber echt

Foto: www.johannwanner.ch

Die Jagd auf Weihnachtsnostalgie…
Engelshaar, Vögel mit Glasschwänzchen, schwere Biedermeierkugeln, Lametta aus Staniol und Metall – alles heute kaum mehr aufzutreiben. Johann Wanner hat schon vor einem halben Jahrhundert die Nase gehabt – und alle Restposten aufgekauft…

«Ist das Engelshaar?» – Die ältere Frau vor dem Weihnachtsladen am Spalenberg schaut verträumt zu einem Bäumchen, das in einem zarten Glasnebel verschwindet.

Der Mann steht etwas senkrechter auf dem Boden dieser bösen Welt: «Nein. Das ist einfach nur Kitsch!»

Die Gattin schaut ihn anklagend an: «Wie kannst du so etwas sagen? – DAS IST WEIHNACHTEN, KARL. EIN FENSTER VOLLER ERINNERUNGEN!»

Sie zeigt aufgeregt zu Lamettafäden, die wie ein silberner Wasserfall aus einem Pokal fliessen: «Silberfäden. Mutter hat sie stets einzeln auf den Ästen verteilt…»

«Ich habe kalte Füsse», knurrt der Mann.

Johann Wanner, Basels Weihnachtskind seit bald einem halben Jahrhundert, beobachtet solche Szenen schmunzelnd: «Sie sind typisch – die einen können mit Weihnachten etwas anfangen. Die andern nicht. Aber stehen bleiben sie hier alle. Vor allem natürlich die Kinder…»

Er zeigt auf die kleinen Flecken, welche platt gedrückte Nasen am unteren Drittel des Schaufensters hinterlassen haben: «Dort, wos am meisten Abdrücke hat, wissen wir: Dieser Artikel dahinter haut! Davon müssen wir bestellen…!»

Es stimmt nicht, dass Weihnachtsbäume der Zeit trotzen. Auch hier gibt es Modeströmungen. Neue Farben. Neue Sujets. Wo früher eine verschneite Glimmerkirche hing, funkelt heute ein rosiges Handy.

«Für die meisten Leute muss der Baum aber immer gleich sein – das heisst: so, wie sie ihn aus ihrer Kinderzeit im Kopf haben. Das ist nicht immer einfach – denn vieles gibt es gar nicht mehr. Oder ist anders geworden. Wie eben dieses Engelshaar, von dem die Frau da zu ihrem Karl gesprochen hat…»

Im vorletzten Jahrhundert wurde Engelshaar noch aus Glas gesponnen. Und auf einem Spinnrad aufgerädelt. Später wurden die feinen Glasfäden industriell hergestellt: «In den 30er- bis 50er-Jahren durfte Engelshaar an keinem Baum fehlen. Meistens wurden die Fäden im Osten hergestellt – wie die Weihnachtskugeln auch. Polen, die einstige Tschechoslowakei und die ehemalige DDR waren in der Weihnachts-Glasbläserei führend. Allerdings wurden die Haare nicht mehr nach den Engeln benannt. Die Kommunisten mochten wohl so etwas nicht. Sie verkauften es jetzt als ‹Feenhaar›.»

Wanner erinnert sich: «…und plötzlich ist es von den Bäumen verschwunden. Die Frauen sagten, es kratze an ihren feinen Fingern. Damals habe ich in Ostdeutschland einen riesigen Restposten davon aufgekauft – ‹Feenhaar›, das Engelshaar war. Ich wusste: Das wird es schon bald nicht mehr geben. Denn: Wer kann so etwas Aufwendiges überhaupt noch produzieren?

Et voilà – heute ist Engelshaar wieder im Kommen. Und wir können den Leuten noch die echten, alten Glasfäden von damals anbieten!»

Auch für Lametta hatte Wanner die gute Nase: «Diese Silberfäden waren schon zur Zeit unserer Grossmütter kostbar. Die silbernen Fäden mussten schwer sein. Das Staniol wurde mit Blei verstärkt. So hingen die feinen Streifchen gut vom Baumast herunter.

Nach Weihnachten wurden die Fäden sorgfältig wieder von den Ästen gelöst. Und in säurefreies Papier gewickelt, damit sie bis zum nächsten Fest nicht schwarz anliefen … übrigens: Es ist heute genauso schwer, säurefreies Papier zu finden, wie richtiges, schweres Lametta auch.»

Wanner erinnert sich: «In Österreich gab es damals noch eine grosse Bandfabrik, die mit solchen Bleifäden arbeitete. Und diese auch in Trachten- oder Dirndel-Bändel einwebte.»

Er zeigt uns eine neue und eine «alte» Girlande.

«Wenn man die Girlanden von einst mit denjenigen von heute vergleicht, stecken Welten dazwischen. Die alten Bleifäden funkeln und glimmern leuchtender, FEURIGER als der Ersatz aus Kunststoff. Hier wirkt das Glimmern irgendwie tot – aber eben: Blei belastet auch die Umwelt. Also werden sie nicht mehr auf die alte Art hergestellt. Wie auch die schweren, wunderschönen Biedermeierkugeln von einst, mit denen die Basler die grossen Äste herunterzogen – alles passé. Und Geschichte!»

Allerdings – auch bei den schweren Lamettafäden hatte Wanner die Nase vorn. Als er vernahm, dass sie nicht mehr produziert würden, hat er kurzerhand die riesige Restladung aufgekauft: «Gottlob. So können wir unserer Kundschaft auch heute noch diese schweren Lamettafäden von einst anbieten. Ganz klar, dass sie am 6. Januar dann wie früher einzeln vom Baum gezupft werden müssen. Denn Weihnachtsbäume dürfen nur lamettafrei der Grünabfuhr mitgegeben werden.»

Nostalgie wird auch bei den alten Weihnachtsbaumvögeln ausgebrütet – früher waren sie berühmt für ihre schimmernden Glasschwänze (die immer von Hand eingeklebt wurden und oft abfielen): «Das Glas wurde dann durch Nylon ersetzt. Es ist nicht dasselbe…»

Immerhin – Wanner führt uns in sein Lager, wo die Weihnachtsbaumvögel in leicht angegilbtem Papierkarton darauf warten, geweckt und an den Weihnachtsbaum gepinnt zu werden: «Alles aus den 40er- und 50er-Jahren!»

Tatsächlich: Am Kartonboden entdeckt man noch das DDR-Zeichen…

Über 90 Prozent der Kugeln, die heute an einem Weihnachtsbaum hängen, sind maschinell fabriziert worden. Und nicht mundgeblasen. Oder handbemalt. Die Reflexkugeln von einst, der verschneite Klaus, die verglimmerten Tannzäpfen – alles Raritäten geworden: «Glimmer ist des Teufels, weil ihn die Kinder gerne ablecken wollen… ALSO GIBT ES IHN KAUM MEHR!»

(Ach Gottchen – ich habe als Kind Tonnen von Glimmer geschluckt und lebe immer noch.)

Johann Wanner versucht in seinem Weihnachtland gewisse Traditionen aufrechtzuerhalten – und das Unmögliche möglich zu machen: eine glimmervolle, glanztolle Weihnachtszeit.

Die Ladenglocke klingelt. Karl betritt den Laden. Und kommt grummelnd auf Wanner zu: «Meine Frau hier denkt, es gebe heute noch Engelshaar und Lametta…»

«Bei mir schon», lächelt Wanner.

Donnerstag, 14. Dezember 2017