D Summerveegel und das ungleiche Brüderpaar

Fasnachtsgeschichte

Simone schaute zum Himmel. Langsam brach der Tag an, in dieser Stadt in ihrem Ausnahmezustand – und über ihre Fasnacht mit all den Schattierungen: von lodernder Freude bis bleierner Trauer.

Wie ein Schwarm flatternder Schmetterlinge zog der Stammverein der Summerveegel seine Runde um den Affenbrunnen.

Fast war es ein magischer Moment: Keine andere Clique störte den skurrilen Morgestraich-­Zug. Der Andreasplatz gehörte den Summer­veegel ganz alleine. Trommler und Pfeifer waren stolz auf ihren guten Zusammenhalt. Und die «Hambacher» tönten wunderschön aus einem Guss. Jemand pfiff eine tiefe Zierstimme, die dem Umgang etwas Feierliches, fast schon Schwermütiges schenkte.

Simone fröstelte.

Sie äugte wieder nach oben.

Nein – gottlob kein Regen in Sicht. Der Himmel senkte sich in einem kalten Morgenblau über die Stadt. Die professionellen Wetterfrösche und Meteo-Tanten hatten sich einmal mehr geirrt.

Simone lächelte leise. Ob ihre zwei Männer da irgendwo im Nirwana runterschauen würden?

«Ihr fehlt mir», flüsterte sie. Und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.

Sofort gab sie sich einen Ruck: «Sei keine Gefühls­tante, Simone. Freue dich an der Gegenwart – an deinen beiden Grosskindern, an der ­Fasnacht!»

Die alte Frau spürte, dass die «Hambacher» sie einwickelten, wie Zuckerwatte den dünnen Stab.

Dann spürte sie plötzlich auch einen Blick im Rücken. Es war, als würde ihr eine magische Hand auf die Schulter klopfen.

Simone drehte sich um.

Ein älterer Mann mit schlohweisser Mähne und eingefallenem Gesicht schaute sie an.

Er nahm die Hand von ihrer Schulter: «Simone – bist dus wirklich?!»

Die alte Frau bekam Herzrasen. Sie schwankte leicht – ihr wurde schwindlig.

«Simone?» – fragte die Stimme noch einmal.

«Rolf», sagte sie dann leise. «Rolf – wo ums Himmels willen bist du all diese Jahre gewesen?»

***

Jens und Rolf waren Brüder. Vollwaisen. Die Eltern waren beide bei einer Bergtour ums Leben gekommen. «Es war unverantwortlich, diese schwierige Route zu wählen – besonders wenn man zwei kleine Kinder daheim hat!» Solche Worte hatten die zwei Buben später immer wieder gehört.

Sie kamen ins Kischtli. So nannten die Bebbi das Basler Waisenhaus damals. Und die beiden Buben verlebten dort eine gute Kindheit. Die Geschwister hatten einander. Das genügte ihnen. Sie waren unzertrennlich.

Schon früh wurden beide vom Fasnachtsvirus infiziert. Ihre Eltern hatten mit Fasnacht nichts am Hut gehabt. Beide waren Extrembergsteiger gewesen. Für sie galt nur die Welt über den Wolken – bis zum grossen Absturz.

Als Jens und Rolf zum ersten Mal die kleine Waisenhaus-Clique im Innenhof sahen, war klar: «Das wollen wir auch!» Jens wurde Trommler. Rolf nahm Piccolostunden.

Als die beiden Kischtli-Buben dann kurz vor Jens’ zwanzigstem Geburtstag dem Waisenhaus Adieu sagten und im Gerbergässlein ihre eigene kleine Zweizimmerwohnung bezogen, war jeder auf seinem Gebiet top: Jens hatte zweimal die Trommelkrone abgeräumt. Rolf galt als eine der grossen Pfeiferprimadonnen der Stadt.

Die Cliquen buhlten um beide.

Rolfs Chef, bei dem er seine Schreinerlehre gemacht hatte, trommelte bei den Summer­veegel. Also meldeten sich auch die beiden ­Brüder dort beim Stammverein an. Nach einem Probejahr war bereits klar: Sie waren die musikalischen Säulen des Spiels.

Rolf hatte als Schreiner ein gutes Auskommen. So konnte er seinem Bruder das Medizinstudium ermöglichen. Der Schreinerlohn wurde mit kleinen Privataufträgen aufpoliert. Rolf hatte sich nämlich schon bald auf die Restaurierung von alten Möbeln spezialisiert – auf Einlegearbeiten.

Eines Tages nahm ihn sein Chef auf die Seite: «Ich glaube, du solltest deine eigene Werkstätte eröffnen – ich schicke dir meine Kunden, wenn es um Restaurierungen und Antik-Möbel geht.»

Rolf entwickelte sich als junger Mann zum gefragten Restaurator. Antiquitätenhändler brachten ihm ihre Schätze zum Aufpolieren. Viele wollten eine Expertise von ihm – so kam er eines Tages auch in die Villa der Hunzikers.

Es galt hier, eine alte Kommode zu bewerten. Aber Rolf hatte nur Augen für das junge Mädchen des Hauses: Simone. Sie wurden schnell ein Paar.

Jens reagierte allerdings etwas kühl auf seine zukünftige Schwägerin – und als Rolf das Mädchen dann gar an den Cliquen-Stamm mitbrachte, fuhr er seinen Bruder gereizt an: «Wir sind eine Männerclique; Weiber haben hier nichts zu suchen.»

Das enge Verhältnis der Geschwister bekam einen Riss. Man spürte diesen Bruch auch im Stammverein – und eines Tages klopfte Simone bei Jens an. Sie wollte einfach wissen, was Sache ist. Und weshalb ihr künftiger Schwager so einen Aufstand inszeniere.

Jens paukte eben für die letzten Examen. Und liess Simone nicht in die Wohnung: «Ich bin im Stress. Reden wir nach den Prüfungen.»

Er bestand mit Bravour.

Aber als Simone erneut bei ihm vorsprach, winkte Jens ab: «Ich muss jetzt Geld verdienen, Simone. Meine Zeit ist zu kostbar für Gefühls­wischiwaschi – ich will meinem Bruder so bald als möglich sein Geld zurückbezahlen.»

Simone schaute ihn fragend an. Und Jens zuckte die Schulter: «Immerhin hat Rolf jahrelang in mich investiert. Diese Schuld will ich so schnell als möglich abtragen!» Er räusperte sich. Und schaute auf den Boden: «Und gegen dich habe ich gar nichts. Du bist mir einfach nur gleichgültig.»

Die Worte schmerzten Simone. Aber sie sagte Rolf später nichts von dem Besuch.

***

Es war dann an einer Fasnacht in den ­70er-Jahren. Simone war keine Fasnächtlerin. Aber sie genoss das Treiben als Zuschauerin. Und gässelte gerne hinter den Cliquen her.

Als sie die Lampe der Summerveegel beim Hotel Drei Könige sah, wollte sie zu Rolf. Sie ging die Treppe hoch. Da packte sie Jens an der Hand: «Dein Liebster hockt im ‹Schnabel›. Komm mit mir; vielleicht können wir jetzt endlich reden!»

Sie merkte, dass Jens zu viel getrunken hatte. Seine Augen waren gerötet. Und er schwankte.

Im grossen Salon riss er sie an einem der Bar­tische dann an sich: «Simone, du hast uns allen nur Unglück gebracht. Mein Bruder und ich haben uns deinetwegen entzweit; da besteht nichts mehr von unserer alten, innigen Zweisamkeit. Und du musst doch spüren, dass auch ich unsterblich in dich verliebt bin. Also, weshalb lässt du uns so leiden?»

Plötzlich schüttelte es den grossen Kerl in seinem Kostüm. Tränen kullerten ihm übers Gesicht.

Die andern Cliquenmitglieder, die ebenfalls herumstanden, schauten geniert weg.

Simone nahm den Kopf von Jens in ihre Hände. Sie streichelte sein Haar: «Jens, das gibt sich alles – die Zeit ...»

Plötzlich spuckte die Drehtür Rolf aus. Mit weit aufgerissenen Augen schaute er auf Simone, die Jens in den Armen hielt.

Dann murmelte er. «Ach so ist das...»

«Rolf!» – Simone schrie seinen Namen.

Doch da war Rolf bereits im Gewühl der bunten Masken verschwunden.

***

«Wo warst du all diese Zeit?» – Simones Flüstern ging im Finale der «Alten Schweizer» unter.

Rolf nahm sie am Arm: «Komm – ich glaube wir brauchen beide eine Stärkung!» Sie hockten sich in der «Hasenburg» an einen Tisch. Und Simone schaute Rolf lange an: «Wir haben dich nach jener Fasnacht überall gesucht. Dieses Treuhandbüro, das später deine Wohnung, das Geschäft, ja dein ganzes Leben in dieser Stadt ­auflöste, hat geschwiegen. Sie wollten uns nichts verraten.»

Rolf rührte in seinem Teeglas: «Das war ein Teil der Abmachung. Ich wollte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, nichts mehr sagen. Ich war nicht mehr der herumgaukelnde Schmetterling der Summerveegel – sondern ein trauriger Adler, dem man die Flügel gestutzt hatte. Ich war so enttäuscht, Simone. Ich habe nie mehr einen solchen Schmerz gespürt, als damals, als ich meinen Bruder und dich gesehen habe. Es hat mich fast zerrissen. Und ich wollte nur eines: Weg! Weg! Weg! Deshalb reiste ich noch in jener Nacht Hals über Kopf ab. Ich packte ein paar Sachen. Nahm ein Taxi. Und liess mich nach Zürich auf den Flughafen fahren. Geld hatte ich mittlerweilen genug. Und ich wollte so weit als möglich weg von Basel sein – weg von all diesem Schmerz und den Erinnerungen.»

Er nahm einen Schluck vom heissen Tee: «Amerika war damals das Traumland von vielen. Der erste Flug, der von Zürich an jenem Morgen dorthin flog, ging nach Boston. Also löste ich ein Ticket!»

Er schwieg einen kurzen Moment: «Es gab dann noch Unstimmigkeiten wegen des Visums. Aber keine tausend Pferde hätten mich halten können – ich wollte nicht zurück. Also setzte sich ein Anwalt für mich ein – dieser Anwalt, der später auch das Treuhandbüro in Basel beauftragt hat. Ich brauchte Jahre, um über diesen Schock hinwegzukommen, dass du und Jens...»

«Aber da war gar nichts!», schrie Simone. «Das war alles ein Missverständnis!»

Ein paar Kostümierte schauten neugierig zu der alten Frau, die da plötzlich zu weinen begann.

Rolf nahm ihre Hand. «Aber du hast ihn geheiratet, Simone. Das hat mir der Treuhänder später geschrieben!»

Simone schnäuzte sich: «Ja. Zwei Jahre nachdem du verschwunden warst, liessen wir uns trauen. Ich spürte, dass du nicht mehr zurückkommen wolltest, dass du einen anderen Weg eingeschlagen hattest. Das war schrecklich für mich.»

Sie schnupfte: «Jens wurde mittlerweile zum Chefarzt in ein Privatspital berufen, aber auch er war unglücklich. Deine Abwesenheit hing wie eine Trauerwolke über unserem ganzen Leben. Jahrelang haben wir nach dir geforscht; es war, als hätte man einem Schmetterling die Flügel ausgerissen.»

Rolf schwieg lange. Schliesslich räusperte er sich: «Ich habe mir in Boston eine neue Identität aufgebaut. Viele Jahre habe ich mit Antiquitäten gehandelt. Und dabei gut verdient; es war kein schlechtes Leben.»

Simone schaute ihren Schwager an: «Bist du verheiratet?»

Er lachte bitter auf: «Du hast mich bis nach Boston verfolgt, Simone. Du und Jens. Ich hatte immer wieder Freundinnen. Aber es hat nie geklappt – ihr standet stets dazwischen.»

Rolf hatte nun Tränen in den Augen: «Was ist mit Jens passiert? Mein Treuhänder hat mir die Todesanzeige aus der Zeitung geschickt. Es tönte nach Suizid?»

Er machte eine Pause.

«Später bekam ich auch die Trauernachricht vom Tod eures Sohns Lars.»

Simone sprach nun ganz leise: «Jens hatte Krebs. Als Arzt wusste er, was zu tun war. Er wollte nicht leiden. Aber er wollte dich einfach noch einmal sehen. Also wartete er ab. So lange, bis er es nicht mehr aushielt.»

«Und Lars?»

Simone schluchzte nun wieder auf: «Lars kam bei einem Autounfall ums Leben. Zusammen mit seiner Frau. Ich habe die beiden Grosskinder dann ganz alleine aufgezogen. Das war immerhin ein Moment Sonne in meinem Leben und...» – Simone lächelte jetzt ein bisschen: «Du bist zweifacher Grossonkel, Rolf. Annika und Jenny werden Augen machen.»

Beide schwiegen nun.

In der «Hasenburg» herrschte das übliche Chaos eines ausklingenden Morgestraichs. Gelächter. Laute Stimmen. Das Klirren von Biergläsern, die auf dem Boden zersplitterten.

Schliesslich gab sich Simone einen Ruck: «Und weshalb bist du zurückgekommen, Rolf?»

Er sah über sein Teeglas hinweg: «Ich bin krank, Simone. Die Ärzte in Boston geben mir nur noch kurze Zeit. Und da wusste ich nach all den vielen Jahren: Ich muss heim. Hier sind meine Wurzeln. Da soll auch der Schlusspunkt sein!»

Er schaute die Frau neben sich müde an: «Und ich wollte mit dir noch einmal über Jens und jene Fasnacht reden. Jens fehlte mir so sehr.»

Seine Stimme brach nun: «Er ging von mir weg, als du kamst, Simone.»

Sie nickte traurig: «Man kommt gegen sein Schicksal nicht an; es ist geschrieben wie diese alten Trommel- und Pfeifertexte – man kann ein bisschen variieren, aber der Takt ist immer klar vorgegeben.»

Sie standen auf. Und gingen hinaus auf den Andreasplatz.

Der bläuliche Himmel war einem tristen ­Morgennebel gewichen.

In den grauen Schwaden funkelten da und dort ein paar Kopflaternen der Summerveegel.

«Sie ziehen weiter», lächelte Simone, «und sie haben jetzt auch Frauen. Annika und Jenny pfeifen mit, Rolf. Sie sind fast so gut wie du vor 40 Jahren.»

Die beiden Alten schauten zu, wie der Tambourmajor den Befehl gab: «Achtung... Glopfgaischt...» Ein Ruck ging durch den Harst der schimmernden Schmetterlinge.

Simone hängte sich bei Rolf ein.

Die bunten Summerveegel-Lampen ­schwankten im grauen Nebel.

Das alte Paar ging hinter den tanzenden Schmetterlingen her.

Rolf drückte Simone sanft den Arm.

Es hatte zu regnen begonnen.

Samstag, 4. März 2017