Streit ist nicht meins

Eine Politikerin hat mir einmal im Interview erklärt: «Auf der Universität habe ich gelernt, in Streitgesprächen meine Standpunkte zu vertreten. Das hat sooo gutgetan. Es war eine Befreiung. Ich liebe die Streitkultur. Sie hat mich freier gemacht.» Und ein Chefredaktor hat mich, als er mit mir über die Unterschiede zwischen Basel und seiner Limmatstadt losziehen wollte (und ich immer nur «wenn du meinst», geantwortet habe) als hoffnungslos aufgegeben: «Mit dir kann man nicht streiten – du bist einfach nur harmoniesüchtig.» Bin ich vermutlich.

Mir ging schon die Gygax vom zweiten Stock auf den Wecker: Sie stand mit eingezogener Nase auf ihrer Türmatte. Und zischte: «Jetzt hat diese Schlampe auf ihrer Seite schon wieder nicht gewischt.» Ich war schon damals der Typ, der den Besen genommen und auch bei der Schlampe sauber gemacht hätte. In der Politik hätte ich so vermutlich als «lösungsorientiert» meinen Stempel aufgedrückt bekommen.

Wenn sich heute ein Talkmaster im Gespräch mit einem Gast nicht fetzt, und nicht mindestens viermal im Jahr mit «er ist mir aus der Sendung gelaufen!» prahlen kann, ist er ein Weichei. Und ohne Kompetenz. Wenn hingegen ein Moderator in diesen sogenannt kritischen Sendungen sein Gegenüber zur Sau macht, hat er Applaus. Zumindest von seinen Richtungsgenossen. Denn natürlich betoniert der Moderator nichts anderes als seine vorgefasste Meinung. Und nennt das dann «Streitkultur». Streit ja. Kultur null.

Mir gehen alle diese Besserwisser-Gesichter auf den Keks, die schon beim Ankündigen des Namens Trump die Stimmlage etwas schriller anziehen und auf dem Gesicht tausend Ausrufezeichen tanzen lassen. Ein berühmter Tagesschausprecher hat mir einmal gesagt. «Die Zeit des neutralen Nachrichtenablesens ist vorbei; wir müssen heute Klartext reden!»

Ich bin kein Freund von Trump. Nein. Ich finde ihn ganz einfach unmöglich – aber um das zu äussern, brauche ich keine Universitätsstunden in Streitkultur. Entsprechend bin ich kein Fan von unterdrückter Empörung in Augen und Mundwinkeln – aber ich bin sehr wohl ein Freund dieser ARD-Nachrichten, die emotionslos von den Sprecherinnen und Sprechern um 20 Uhr serviert werden. Und die allen die Möglichkeit geben, unsere eigenen Ausrufezeichen zu machen.

Weshalb muss heute alles hinterfragt, be- und zerstritten werden? Man nennt das «journalistisch kritisch sein». «Kritisch» ist okay – aber vielleicht sollte man auch die eigenen Gedanken mal hinterfragen. Und nicht jeden Scheinwerfermoment eines Streitgesprächs benutzen, um sich zu profilieren. Und das Gegenüber an die Wand zu drücken.

Urs Gredig versucht in seinem neuen Talk Menschen zu zeichnen. Das gelingt nicht immer. Denn wer kennt schon jemanden nach 33 Minuten. Aber immerhin: Der Talkmaster haut sie nicht gleich in die Pfanne. Das tun dann die Kritiker mit ihm : «Gipfel der Bravheit» («NZZ am Sonntag»), «Wohlfühlprogramm» («Blick»), «Stiefelleckerei» (Twitter).

Mein Vater hat immer gesagt: «Die Gygax vom zweiten Stock ist ein ‹Hetzmaul›.» Sind diese streitsüchtigen Medienleute die heutige Gygax vom zweiten Stock? Ich weiss es nicht. Und auch Schopenhauer hätte es nicht gewusst , obwohl er bereits vor über 150 Jahren für die Kniffe im Streiten den Begriff eristische Dialektik geprägt hat.

Ganz plump gedacht: Wie viele Kriege gibt es auf dieser Welt? Wie viele knallen den andern die Birne weg? In wie vielen Städten, Ländern, Erdteilen finden Schlägereien statt? Schöne Streitkultur das!

Es finden überall Friedensgespräche statt – aber natürlich nur von denjenigen, welche die Streitkultur beherrschen. Vielleicht sollten wir mehr die Kultur der Toleranz pflegen. Der Versöhnung. Und des «to live und to let live»? Auf die Gefahr hin, als harmoniesüchtiges Weichei abgestempelt zu werden.

Montag, 1. Juni 2020